Der Weg zur Hölle!
Der achtzehnjährige Henri kämpfte gegen eine aufkommende Müdigkeit. Er fühlte sich nicht mehr
jung, sondern alt und schwach. Vor drei Tagen musste er sein Pferd erschießen. Das lederne
Halfter nahm er mit, den Grund hierfür verstand er selbst nicht. Vielleicht könnte es ihm als Waffe dienen?
Langsam machte sich die nervliche Anspannung bemerkbar. Immer öfter glaubte er, huschende Schritte, leise, blitzschnelle Bewegungen hinter sich wahrzunehmen. In unregelmäßigen Abständen drehte er sich ruckartig um, nur um festzustellen, dass da nichts außer Dunkelheit war.
Ferne, weiße Nebelschleier schwebten über dem felsigen Boden. Sie schienen zu dem
Lichtkegel zu gehören, auf den er zuging. Henri war gespannt, was ihn dort vorne erwartete. Nach wenigen Schritten hatte er sein Ziel erreicht und stand schweigend davor.
Es war ein See. Die Oberfläche lag spiegelglatt und schimmernd da. Kein Lufthauch strich darüber. Dennoch wirkte der Frieden trügerisch, so, als lauere etwas Unvorstellbares dicht unter dieser Oberfläche.
Henri beschloss, die Probe aufs Exempel zu machen. Ganz dicht ging er an das Ufer heran.
Nichts geschah!
Er beugte sich vor, einem plötzlichen inneren Zwang folgend. Sein Spiegelbild funkelte auf der glatten Oberfläche. Er erkannte sein hageres, bleiches Gesicht, die Augen tief in schattigen Höhlen liegend und fiebrig glänzend. Fassungslos strich er mit seiner linken Hand seine Haut entlang. Wahnsinn, wie er sich verändert hatte, wie er älter und reifer wirkte.
„Hol ̉s der Teufel!“, entfuhr es ihm genervt.
Ein kehliges Lachen antwortete ihm. Ein unheimliches Kichern, das direkt aus dem See zu steigen schien. Henri starrte auf die Oberfläche, jeden Augenblick bereit, zu kämpfen, sich zu verteidigen. Es wurde nicht notwendig. Das Lachen verstummte abrupt.
„Dämon“, wisperte eine fremde Stimme, die sich unheimlich nahe an seinem Ohr befand.
„Dämon ... Dämon ... Dämon ...“, fielen andere Stimmen ein.
Henri hielt sich die Ohren zu. Seine Blicke versuchten, die Düsternis zu durchdringen, aber da gab es nichts zu sehen.
Die Stimmen waren dennoch da!
„Zeigt euch, verdammt!“, schrie Henri. Sein Nervenkostüm hielt die Beanspruchung einfach nicht mehr aus!
„Hört ihr nicht, ihr Feiglinge! Zeigt euch endlich! Ich habe keine Angst vor euch. Kommt her, zeigt euch!“
Schaurig hallten seine Worte von den Kristallwänden wider, wurden verzerrt, schrill, dumpf, eine Mischung aus mehreren Stimmen.
„Er will uns sehen!“, flüsterte und kicherte es ringsum.
„Er behauptet, keine Angst vor uns zu haben!“
Wieder erklang dieses unheimliche, krächzende Lachen.
Über der weiten Wasserfläche, die rechts und links bis an die steil aufragenden Kristallwände des Korridors heranreichte, wallten Nebelfetzen. Bizarre Formen bildeten sich und zerfaserten wieder, obwohl sich nach wie vor kein Lüftchen regte.
Henri wich ein paar Schritte vom Ufer zurück.
Da hörte er das Plätschern. Das silberne Wasser kräuselte sich, Wellen zogen sich kreisförmig bis ans Ufer heran. Der Nebel geriet in hektische Wallungen und verhinderte, dass Henri sehen konnte, was in der Mitte des Sees vor sich ging.
Es war nichts Gutes, das stand auf jeden Fall fest!
Henri ärgerte sich über seine eigene Hilflosigkeit. Nur dastehen und abwarten, das war beileibe nicht nach seinem Geschmack. Er suchte nach einer Möglichkeit, wie er den See passieren konnte.
Aber eine solche Möglichkeit gab es nicht!
In den milchigen Nebelschleiern waren schattenhaft Körper auszumachen. Henri spürte förmlich, wie ihm die Wirklichkeit entglitt, wie ihm das Grauen, das ihn in dieser Unterwelt ständig umgab, in seinen Bann zu schlagen drohte.
Etwas stieg an die Wasseroberfläche empor!
Für eine Flucht war es zu spät, viel zu spät. Außerdem zweifelte Henri daran, dass er weit gekommen wäre.
Er hatte die Unheimlichen, die im See hausten, herausgefordert und sie hatten diese Herausforderung akzeptiert.
Jetzt wurde es brenzlig.
Henri ballte die Fäuste. Im Grunde genommen eine lächerliche Geste, vor allem in dieser Situation. Trotzdem, dachte er störrisch, ich werde kämpfen, gegen jeden Gegner, der kommen sollte. Er starrte auf die Schemen, die scheinbar schwerelos über die schaukelnde Wasserfläche auf ihn zuschwebten.
Die Nebelbank zerriss und sank wirbelnd zurück ins Wasser.
Und jetzt konnte Henri seine Gegner erkennen.
Wasserdämonen!
Bösartige Wesen! Sie beherrschten die Macht des Wassers, zogen ihre Opfer hinein und nährten sich dort von ihren Seelen. Ihre Haut schimmerte leicht blau, die schwarzen Augen blickten leer auf Henri.
Die Wasserdämonen kamen!
Henri starrte ihnen entgegen, unfähig, sich zu bewegen.
Aber es war aussichtslos! Alles war von vornherein aussichtslos, weglaufen sowieso. Ein Kampf auch. Er biss sich auf die Lippen, weil er sich ärgerte, so hilflos und unbewaffnet zu sein.
Sie sahen fürchterlich aus.
Große, aufgedunsene menschliche Körper, die nur von spärlichen modrigen Fetzen verhüllt wurden. Ihre Haut schimmerte bläulich, die schwarzen Augen wirkten übergroß, glasig, aber auch voller dämonischer Lebensgier.
Völlig lautlos schwebten sie heran. Das Geräusch des gluckernden und platschenden Wassers, das dumpfe Dröhnen, das aus der Tiefe der Erde kam, das herzschlagähnliche Pochen, alles vermischte sich.
Henri wusste, dass er nur noch wenige Augenblicke zu leben hatte. Kein schöner Ort für den letzten Abgang, dachte er traurig.
Die Wasserdämonen schwärmten aus. In einer breiten Kette kamen sie heran. Henri versuchte zu zählen, hörte aber bei zwanzig auf. Die Übermacht des Gegners demoralisierte bloß.
Nicht einmal mit einem dieser Wesen hätte er es mit bloßen Händen aufnehmen können.
„Immer noch ohne Angst?“, kicherte eine Stimme.
Henri zog es vor, den Mund zu halten.
„Du hast es gewagt, in das Allerheiligste der Schwarzen Familie einzudringen, Henri Vogt! Du hast es gewagt, den Limbus Cognitionem Potentiae zu betreten. Und du hast es gewagt, uns zu beschimpfen, hier im äußersten Kreis der Hölle! Jedes einzelne Delikt rechtfertigt deinen Tod! Darüber bist du dir hoffentlich im Klaren.“
„Ihr seid das Hässlichste, das ich je ansehen musste!“, spie Henri aus und rümpfte seine Nase.
„Oh, er versteht es noch immer nicht, wie er sich uns gegenüber zu benehmen hat.“
„Macht ihn fertig!“, kreischte eine hässliche Alte, von deren Gesicht nur noch eine Hälfte zu erkennen war. Die andere Hälfte war von faustgroßen, eitrigen Beulen übersät, das Auge völlig unkenntlich. Der Mund hing schief herunter und sonderte weißlichen Schleim ab. Sie trug eine zerrissene
Kluft, die nur noch aus Fetzen zu bestehen schien.
Die anderen Wasserdämonen sahen nicht besser aus.
Henri sah
blutleere Alptraumfratzen. Verzogene, verzerrte, von Wucherungen, Beulen und Blasen verunstaltete Gesichter, gebrochene oder grell leuchtende glasige Augen, vorgereckte Kiefer; die von einer Säure zerfressen schienen. Die langen Arme endeten in Klauenhänden mit spitzen Krallen.
Dies war die Armee des Wahnsinns!
Und genauso rochen die Wasserdämonen auch!
Ein unbändiger Verwesungsgeruch schlug Henri entgegen. Sein Gesicht wurde
aschfahl, raubte ihm den Atem, ließ seine Augen tränen.
Die ersten Toten erreichten das Ufer!
„Packt den Kerl!“, geiferte die Alte wieder.
Henri stellte sich breitbeinig, leicht vornübergebeugt hin und hob seine Fäuste. Lächerlich, dachte er, verdammt ist das lächerlich. Aber sich einfach niedermachen lassen, das wollte er auch nicht. Er beschloss zu kämpfen, seine Haut so teuer wie möglich zu verkaufen.
Die ersten Wasserdämonen stürzten sich auf ihn! Wie hungrige Wölfe hetzten sie heran, geschmeidig und sehr schnell. Andere wiederum wankend, taumelnd, torkelnd, wie betrunken, da ihnen Arme oder Beine fehlten.
Henri sah nicht mehr hin. Ihm wurde schlecht, ein wahnsinniger Druck wuchs in seinem Magen.
Die ersten Schläge musste er voll einstecken. Sie schleuderten ihn zurück! An den Stellen, wo ihn die nassen Fäuste der Leichen getroffen hatten, brannte die Haut.
Der Ekel trieb ihn schier in den Wahnsinn!
Henri fing sich, schrie seinen Horror hinaus und zahlte zurück. Ein kleiner, buckliger Dämon mit leeren Augenhöhlen flog davon wie eine Kanonenkugel. Er schlug einfach blindlings um sich. Immer wieder traf er weiche, schwammige Körper, aber noch mehr musste er selbst einstecken. Sie waren einfach so viele! Unzählige Schläge prasselten auf ihn ein, auf seinen Kopf und in seinen Magen. Seine
Fingerknöchel schmerzten bereits.
Eine Deckung war unmöglich!
Die Wasserdämonen waren plötzlich überall, mit ihnen der üble Verwesungsgestank, eisige Kälte und tödliches Knurren, Grollen und Keuchen.
Henri stürzte schwer getroffen zu Boden.
Das ist der Anfang vom Ende, konnte er noch denken, dann war jegliches Gefühl in ihm plötzlich wie abgeschaltet.
Er wurde zu einer Maschine.
Zu einer Kampfmaschine, die Wahnsinnsschläge einstecken musste, jedoch keine Wirkung spürte, keinen Schmerz, rein gar nichts.
Mit Händen und Füßen schlug er in die stinkende, keuchende, triefnasse Meute ein, die auf ihm lag. Ein Berg aus sich bewegenden Alptraumkörpern, aus Fratzen, die nichts Menschliches mehr an sich hatten!
Henri blieb die Luft weg. Er sah Sterne, die vor seinen Augen explodierten, und eine unglaubliche Hitze ausstrahlten. Kalte, feuchte Leichenhände drückten ihm die Kehle ab und würgten ihn.
„Wie steht es nun mit deinem Mut? Los, rede, solange du noch reden kannst!“, geiferte die Alte.
Henri brachte keinen Ton heraus. Alles versank, wurde eins mit der blau-schwarzen Dämmerung, die irgendwo hinter dem Berg aus keifenden, schreienden Wasserdämonen lag. Er würgte, versuchte noch einmal, sich weg zu wälzen, dem unbarmherzigen Tod zu entkommen.
Vergeblich!
Lächerlich und vergeblich!
Die Leichen kannten keine Gnade! Sie wollten ihn tot vor sich liegen haben. Und er wusste nicht einmal, wie er hierhergekommen war. Der äußere Kreis der Hölle! Limbus Cognitionem Potentiae! Mit diesen Orten konnte er beim besten Willen nichts anfangen.
Der Druck auf seine Brust nahm zu. Immer mehr.
Wie lange hatte er schon nicht mehr geatmet? Eine Minute? Zwei Minuten?
Seine Lungenflügel drohten zu zerplatzen. In seinem Kopf wummerte sein Herzschlag. Das Dröhnen schwoll noch an.
Henri schloss seine Augen, die er bis zuletzt offen behalten hatte. Die Fratzen der Wasserdämonen blieben jedoch vor seinem inneren Auge.
Die Erinnerungen seines Lebens spulten sich ab. Irrwitzig schnell, so schnell, dass er kaum einzelne Bilder wahrnehmen konnte.
Ein krächzender Schrei erklang. Henri begriff nicht mehr, dass er es selbst gewesen war, der ihn ausgestoßen hatte. Ein Schrei der Wut und Verzweiflung. Ein Todesschrei! Seine Muskeln erschlafften.
Es war verrückt, aber das letzte Gefühl, die letzte Empfindung, die er mitnahm, war Erleichterung.
Dabei war das Spiel für ihn noch gar nicht zu Ende!
Alles, was geschehen war, war erst ein Anfang!
Überall waren sich bewegende Schatten.
Henri war hundeelend zumute. Die Welt stand auf dem Kopf und schaukelte wie verrückt auf und ab. Penetranter Verwesungsgestank hatte sich wie ein pelziger Belag auf seiner Zunge festgesetzt. Dann nahm er dankbar zur Kenntnis, dass sich eine erlösende Stille über ihn senkte. Alles wurde
rabenschwarz, nicht einmal Sterne waren noch zu sehen oder Geräusche zu hören.
Fühlte sich so der Tod an?