1.Dezember
Ich eröffne nun für gestern mit diesen Worten:
Wie der kleine Weihnachtsengel glücklich wurde (von Fabian Lith)
Als der kleine Weihnachtsengel erwachte, befand er sich in dem festlich geschmückten Zimmer. Er hing an einem Zweig des Christbaumes ganz in der Nähe einer dicken roten Glaskugel, und wenn er in die Höhe schaute, bis zur Spitze des Baumes, so gewahrte er dort den Weihnachtsstern. Dem kleinen Weihnachtsengel wurde ganz feierlich zumute. Er erlebte dieses alles ja zum ersten Male in seinem Leben; denn er war erst gestern gekauft worden.
"He! Wer sind Sie denn?" plärrte da eine Stimme durch den Raum.
Der Weihnachtsengel erschrak. "Ist jemand da?" fragte er.
"Das will ich meinen", lautete die Antwort. "Schauen Sie einmal nach unten".
Der kleine Weihnachtsengel folgte dieser Aufforderung und erblickte zu Füßen des
Christbaumes einen großen, bunt gekleideten Herrn mit einem entsetzlich breiten Mund.
"Ich bin ein Weihnachtsengel", stellte sich der Weihnachtsengel vor. "Und wer sind Sie?"
Der buntgekleidete Herr war empört über diese Frage. Er vertrat nämlich die Ansicht, jeder auf der Welt müsse ihn kennen. "Na, hören Sie mal!" sagte er. "Kennen Sie etwa mich, den Nußknacker, nicht? Ich bin eine der berühmtesten Persönlichkeiten aller Zeiten." Und bei diesen Worten klapperte er abscheulich mit seinem breiten Mund.
"Entschuldigen Sie vielmals", sagte der Weihnachtsengel. "Ich habe Sie wirklich noch nie in meinem Leben gesehen."
"Ich dachte es mir", erwiderte der Nußknacker. "Sie sehen auch ziemlich dumm aus, und arm scheinen Sie obendrein zu sein."
Er wandte sich an einen Herrn, der neben ihm stand.
"Was meinen Sie dazu, Herr Räuchermännchen?"
Das Räuchermännchen sah aus wie ein Nachtwächter. Es trug einen breitkrempigen Hut, einen langen Mantel, ein Nachtwächterhorn, und es paffte aus einer langen Großvaterpfeife.
"Mich geht das nichts an!" brummelte das Räuchermännchen und stieß eine dicke
Rauchwolke von sich. "Aber wenn Sie mich fragen, so meine ich, ein wenig Farbe könnte nicht schaden."
Der Nußknacker lachte laut auf. "Ja, sehen Sie mich an, meine prächtige Uniform!" rief er. "Ein roter Rock mit goldenen Tressen, eine blaue Hose und ein herrlich langer Säbel. Auf meiner Brust erblicken Sie silberne und goldene Orden, und meine Mütze ist aus edlem Pelzwerk."
Da mußte der kleine Weihnachtsengel dem Nußknacker recht geben. Er war wirklich ein schmucker Herr, der sich sehen lassen konnte. Der kleine Weihnachtsengel hingegen trug nur ein schlichtes Hemdkleid, das ihm bis zu den Füßen reichte. Auf dem Rücken hatte er zwei Flügel, und das einzig Farbige an ihm waren seine rosa Bäckchen. Und das war nun wahrhaftig nicht viel.
Der kleine Weihnachtsengel schämte sich, daß er so einfach gekleidet war, viel einfacher noch als das Räuchermännchen, das immerhin zum roten Mantel einen grünen Hut trug, das ein goldenes Horn besaß und eine braune Pfeife zum Räuchern.
"Es ist wirklich traurig, wenn man so aussieht wie Sie", meckerte der Nußknacker, klapperte mit seinem breiten Mund, wackelte mit dem Kopf und fragte: "Sind Sie wenigstens zu etwas nütze?"
Der Weihnachtsengel wußte nicht, was das ist, zu etwas nütze sein. Er mußte es sich von dem Nußknakcer erklären lassen.
Zu etwas nütze sein, so erläuterte ihm der Nußknacker, das sei, wenn man eine gewichtige Aufgabe zu erfüllen habe, wie er zum Beispiel. "Ich knacke nämlich Nüsse", sagte der Nußknacker und plusterte sich dabei gewaltig auf; denn er war der Meinung, Nüsse knacken sei überhaupt die wichtigste Beschäftigung der Welt. "Knacken Sie vielleicht auch Nüsse?" fragte er den Weihnachtsengel.
"Nein", antwortete der Weihnachtsengel leise, "ich knacke keine Nüsse."
"Das war mir von Anfang an klar!" rief der Nußknacker. "Sie haben auch einen viel zu kleinen Mund." Er blickte triumphierend in die Runde, als suche er Beifall für seine Worte. Aber nur das Räuchermännchen nickte mit dem Kopf und meinte, so einfach sei es eben nicht, zu etwas nütze zu sein. Und das Räuchermännchen fragte den Weihnachtsengel, ob er denn vielleicht räuchern und für einen guten Duft in der Weihnachtsstube sorgen könne.
Der Weihnachtsengel mußte gestehen, daß er auch nicht zu räuchern verstehe.
"Dann können wir leider nicht mit Ihnen verkehren!" rief höchnäsig der Nußknacker. "Wir unterhalten uns nur mit Leuten, die farbenprächtig gekleidet sind, wie es sich gehört, und die zu etwas nütze sind." Das Räuchermännchen nickte zu diesen Worten und stieß dicke Rauchwolken aus, während der Nußknacker mit dem breiten Mund klapperte.
Der Weihnachtsengel aber wurde sehr traurig. Er hatte es nie empfunden, daß er arm und gar zu schlicht gekleidet sei. Er hatte sich recht glücklich gefühlt in seinem langen weißen Kleid.
Es war ihm auch nie bewußt geworden, daß man zu etwas nütze sein müsse. Aber natürlich, der Nußknacker und das Räuchermännchen hatten recht. Was wollte er, der Weihnachtsengel, in der Weihnachtsstube? Er war nicht schön, wie alles ringsum, und da gab es nichts, wo er sich hätte nützlich machen können.
Eine winzige Träne kullerte dem kleinen Weihnachtsengel über das Gesicht. Er wandte sich hilfesuchend an den Nußknacker und fragte: "Was soll ich tun? Was raten Sie mir?"
Der Nußknacker lachte hämisch und sagte: "Ich an Ihrer Stelle würde rasch zurückkehren in den Pappkarton, der auf dem Speicher steht."
Ehe aber der kleine Weihnachtsengel diesen bösen Rat befolgen konnte, öffnete sich die Tür der Weihnachtsstube. Der Vater trat ein, nahm ein Zündholz und steckte die Kerzen in Brand.
Dann läutete er mit einer kleinen Porzellanglocke, und die Mutter kam mit den Kindern ins Zimmer. Alle sangen gemeinsam ein Weihnachtslied, und jedes der Kinder mußte ein Gedicht aufsagen.
Thomas aber, der Jüngste, blieb mitten in seinem Gedicht stecken. Er hatte den neuen Weihnachtsengel im Baum entdeckt, und glücklich rief er: "Oh, Mutti, ist der schön!"
Bums - machte es da. Der Nußknacker war vor Ärger umgefallen, und das Räuchermännchen verschluckte sich vor Schreck am Rauch umd mußte husten. Aber niemand kümmerte sich um sie. Alle betrachteten den kleinen Weihnachtsengel.
Dessen Wangen aber röteten sich vor Freude noch mehr. Er wußte nun, daß man nicht unbedingt bunt sein und mit seinem breiten Mund klappern muß. Auch ein schlichter
Weihnachtsengel ist schön. Thomas hatte es gesagt.
Und nützlich? Na, ist es nichts, wenn einer einen kleinen Buben glücklich macht?