Das Seminar
„Da jetzt runter?!“
Stella schaut entsetzt hinab in das Gewölbe, welches mindestens hundert Meter unter uns liegt. Einen Aufzug finden wir hier nicht. Nur eine abgetretene Steintreppe mit unzähligen Stufen, die in einen Kreuzgang führen. Unsere Kollegen sind schon längst am Ziel angekommen und der Letzte verschwindet im Gewölbekeller. Ich komme hier mit Stella keinen Schritt weiter, denn sie weigert sich beharrlich. Grund dafür sind ihre neuen Highheels. Sie werden, dass nicht überleben, jammert sie. Ihre Schuhe kosteten fast fünfzig Euro. Mit verschränkten Armen bleibt sie stehen.
„Was sollen wir hier oben? Hier ist nichts, oder willst du die ganze Zeit auf der Holzbank neben Gundel sitzen?“, mit einer Kopfbewegung deute ich in Richtung Fenster.
Dort sitzt die pensionierte Grundschullehrerin im Dirndl und spielt für die Touristen auf einer Zither „Patrona Bavariae“.
Stella schnaubt wütend und schlüpft aus ihren hochhackigen Schuhen. „Na gut.“, seufzt sie und drückt diese mir wie in die Hand. Leichten Schrittes läuft sie geschwind die Treppen hinab. Ihre schwarzen Locken wippen bei jeder Stufe und ich eile ihr hinterher, mit ihrem toxischen Fußgeruch in meiner Nase. Unten angekommen sehen wir niemanden mehr. Alle sind in einem der vielen Gänge weitergezogen. Aus der Ferne dringen Stimmen durch das Gewölbe zu uns. Es ist beengt und im Labyrinth irren wir immer tiefer in den modrigen, kühlen und dunklen Keller.
Stella horcht auf. Durch eine Holztür etwa drei Meter vor uns auf der rechten Seite, meint sie eine Männerstimme zu hören. Wir huschen rüber und leise öffnet sie die Tür.
An einem großen runden Tisch sitzen statt unserer Kollegen, einige Bewohner aus Oberegenhof und Unteregenhof. Der bucklige Hermann, der Öko-Klaus und seine Lydia, die eingebildete Diana aus dem Friseurladen mit ihrer besten Freundin Susi und sogar die drei Gebrüder Mayerhofer aus der Eishockeymannschaft. „Was machen die hier?“, flüstert mir Stella zu. Lydia schaut entsetzt in unsere Richtung und ein Raunen geht durch die Menge. Einige starren verschämt in auf den großen dem runden Tisch. Dort liegen Sexspielzeuge und merkwürdige Sachen wie Lederpeitschen, Handschellen und Dinger, die aussehen wie Miniatur Paddeln.
Stella und ich können nicht anders und kichern. Wir pressen uns die Hand vor den Mund, um nicht loszuprusten. Ein großgewachsener Kerl im Anzug steht vor einer Leinwand und zeigt mit einem Stab auf eine Projektion. Dort sehen wir das Abbild einer Frau, die kopfüber gefesselt mit einem roten Ball zwischen den Zähnen, an einem Holzgebälk baumelt. Ein Seminar für BDSM-Anfänger und der halbe Stammtisch aus unserer Wirtschaft ist anwesend.
„Da sind sie ja endlich! Hatten sie eine angenehme Anreise?“ Alle Augenpaare sind auf uns gerichtet.
„Schönen guten Tag, aber wir haben uns verlaufen und suchen unsere Kollegen aus dem „Alten Wirt“. Entschuldigung“ lächelt Stella in die Runde. „Ach du Scheiße, lass uns abhauen.“, zischt sie mir ins Ohr. Ich winke zaghaft mit Stellas Schuhen in der Hand. Auf dem Weg nach draußen bleiben wir zu zweit im kleinen Türrahmen stecken.
Das peitschende Klatschen des Zeigestabes auf dem Holztisch tönt durch das gesamte Gemäuer.
Vor Schreck ziehen wir beide die Köpfe ein und erstarren. „Hiergeblieben!“, brüllt er uns an.
Jetzt erklärt er zu unserem Entsetzen den Gästen, dass wir die erwarteten „Coaches für Dominanz und Submission“ sind. Fragend schauen wir uns an. Mich beschleicht der Verdacht, dass die richtigen „Coach-Damen“ gar nie hier angekommen sind und er es als Teil einer Inszenierung sieht, uns vor der Flucht abzuhalten.
Wir hatten es fast zur Tür hinausgeschafft, da packt er uns grob am Nacken wie zwei Welpen und schubst uns mitten in den Raum. Jetzt soll der bucklige Hermann seine dominanten Fähigkeiten zum ersten Mal beweisen und uns im Befehlston den Platz zuweisen. „Do goasch her.“, sagt er etwas streng. „Hock di do her … und du aah!!“ Bemüht und im besten Ostallgäuer Dialekt, navigierte er uns auf die Holzbank. Sein Blick ist grimmig und der Anzug ist ihm zwei Nummern zu groß. Ich weine fast vor Lachen und presse die Lippen aufeinander.
Wir sind derart baff über die schräge Situation, dass uns eine Gegenwehr gar nicht erst möglich ist. Mir uns Stella bleibt nichts anderes übrig als das Szenario mitzuspielen. Doch das Schlimmste steht uns jetzt bevor: der Öko-Klaus mit seinen Hanfseilen im zerschlissenen Plastiksackerl von der BayWa, kommt auf Befehl angeschlichen. „Wo ist deine Dominanz? Zeige es ihnen!“, befiehlt der Meister. Mit seiner Fistelstimme stößt Klausi einen Urschrei aus und fängt an, uns umständlich einzuwickeln. Seine Frau Lydia muss im Anschluss das Wirrwarr wieder ordnen, weil er sich mit uns im Seil komplett verheddert hat.
Als Klausi endlich befreit ist, hat der Seminarleiter keine Geduld mehr. Er scheucht das Pärchen weg und fummelt selber die Fesselung um unsere Oberkörper.
Es dauert etwa eine viertel Stunde, aber es ist vollbracht: Wir sitzen nach aller Kunst fixiert kerzengerade auf der Bank und hoffen inständig, dass der ganze Zirkus bald vorbei ist.
Ich muss dringend auf die Toilette und meine Haut schmerzt unter den kratzigen Hanfseilen. Bei Stella stehen die Schweißperlen im Gesicht.
Um mich abzulenken, lasse ich gedanklich alle bisherigen Betriebsausflüge Revue passieren. Da wäre mal der Besuch im Münchner Rosengarten, die Stadtführung durch Salzburg, eine Kunstausstellung in Basel, ja sogar bis nach Wien sind wir mal gefahren. Ich erinnere mich genau, wie die barfüßige Stella mit mir verzweifelt einer Donauparkbahn hinterhergerannt sind. Sie hatte ihre Highheels in der Bahn ausgezogen, um ihre schmerzenden Füße mit Cola zu kühlen, und glatt vergessen. Wir haben die Schuhe wiederbekommen, aber ein paar Kids hatten sie mit Graffiti besprüht. Das war bisher das Aufregendste, was ich je erlebt habe.
Ein Kurs in Sado Maso, mitten im Dorf, quasi vor unserer Haustür und dann gefesselt dabei zu sitzen – ich hätte mir das in meinen kühnsten Träumen nie vorstellen können.
Es klopft an der Tür und während der Meister unbeirrt die Vorzüge von Klemmen an Brustwarzen erklärt, treten zwei aufgetakelte Gothik-Tanten ein. Deren schwarze Kluft ist durchsetzt von Schnallen und Nieten. Die Kleinere der beiden hat so Art Gartenschläuche in ihre Haare eingearbeitet und nuschelt „T´schuldigung ab´r z´Buchloe isch d´r Zug aus´gfalla.“
Stella reißt ihre Augen weit auf. „Hmmpf!“ - mehr bringt sie unter dem Knebel nicht raus. Wir wittern das schnelle Ende, des Theaters. Ansonsten hätten wir uns oben frei machen müssen, damit die Mayerhofer Brüder uns Klemmen an die Brustwarzen anbringen. Nie wieder werde ich die verspäteten Anschlusszüge in Buchloe verunglimpfen. Nie wieder.
Der Zeremonie-Meister rückt räuspernd seine Krawatte zurecht.
„Tja, … ähm. Sie sind also …“
Wir nicken heftig in seine Richtung mit weit aufgerissenen Augen. Mit gesenktem Blick entfesselt er erst mich, dann Stella und bittet uns leise um Entschuldigung.
Keine zehn Minuten später rennen wir hunderte von Treppen aus dem Burgkeller nach oben in Freiheit.
Wir setzen uns neben Gundel und ihrer Zither auf der Terrasse. Sie hat inzwischen aufgehört zu zupfen und gönnt sich eine Zigarillo. Am Kiosk bestellt uns Stella je einen Obstler zum Kaffee. Der Unimog steht schon bereit zur Talfahrt. Ich atme den Duft der Tannen ein. Wir lehnen uns an die steinige Wand und genießen die warmen Sonnenstrahlen. Die Glockenklänge der Kühe und das Zirpen der Grillen aus der Blumenwiese gegenüber, wird verdrängt vom Stimmengewirr aus dem Burgkeller, das zu uns dringt. Nach und nach erscheinen die Kollegen von der Führung zurück.
„Mei war des aufregend!“, ruft uns Aynur zu. „Da hobt´s ab´r was verpasst!“.
Stella und ich schauen uns an, schieben zeitlich die Sonnenbrille von unserer Stirn auf die Nase und richten den Blick wieder auf die Kühe vor uns.