Aus der Praxis einer MS-Betroffenen
Bei mir hatte die MS mit 16 völlig harmlos begonnen. Kreisförmige "taube" Gefühlsausfälle an den Beinen, die nach 2-3 Wochen wieder weg waren, dann anderswo wieder kamen und wieder verschwanden.
Zudem war ich so müde, dass ich jedes WE einfach durchschlief.
Richtig aufgefallen ist sie es mir im Turnunterricht. Ich war immer extrem sportlich, konnte am Reck den Feldaufschwung gleich zwei Mal um die Stange herum. Natürlich führte ich dies im Turnunterricht vor und als die Professorin mich bat, dies doch nochmals zu zeigen: Die Beine ließen sich am Reck nicht mehr hochschwingen, nicht um die Burg! Am Ende der Turnstunde ging es wieder, gleich doppelt, aberwiederum nur ein einziges Mal - Wiederholung unmöglich. Es war zum "aus der Haut fahren".
Natürlich dachte ich sofort an Konditionsmangel und trainierte - immer mit dem gleichen Erfolg: Ein Mal die doppelte Drehung um das Reck und - aus war es.
Irgendwann war mir abends aufgefallen, dass ich speiell bei Müdigkeit den Mond verschoben doppelt sah und amüsierte mich darüber. Andere müssen da schon Drogen nehmen, um dies zu erleben ...
Dann kam plötzlich ein Gefühl dazu, als wenn die Knochen in den Beinen weich werden würden. Oder verschwinden die Muskeln in den Beinen vielleicht? Auch Gleichgewichtsstörungen kamen dazu, als wenn du besoffen bist und zeitwese torkelte ich.
Auch sagte mir mein Beingefühl nicht mehr, wie hoch oder tief etwas entfernt ist und ich steige. Nur anhand der Logik wußte ich, dass ich mein Bein nun so 18 cm hoch oder tiefer bringen müsse, um die Stufe zu erreichen. Gespürt habe ich dias Auftreten auf der Stufe dann nicht - nur über das Sehen gewußt, dass ich nun dort stehe.
Bald darauf sellte sich der erste Schub mit einer beinbetonten Halbseitenlähmung ein und ich bekam sofort die Diagnose MS. Ein dreivierteltes Jahr musste ich mangels Mobilität mein Studium an der Uni unterbrechen und niemand ist so oft wie betrunken und ohne Höhengefühl die Stufen des Hauptportales hinunter gefallen als ich - ich habe jede einzelne Stufe persönlich kennen gelernt.
Es folgten mehrere Halbseitenlähmungen, immer wieder Faltrolli und immer wieder kurzstreckige Gefähigkeit mit Stock. Allerdings war das erste Auto bei unserer Hochhauswohnung immer das Meine, das sogar mit Sondergenehmigung in der Feuerwehrzufahrtszone parken durfte.
Als vor so 17 Jahren die Interferone auf den Markt kamen, war ich noch gehfähig mit Stock und sofort freiwilliges Versuchskaninchen in der Studie. Ich schwor auf die positive Wrkung der Immunmodulation - wenn sie dann einmal einsetzt.
Nach drei Monaten saß ich fix im Faltolli, nach sechs Monaten im Elektrorolli und nach neun Monaten konnte ich mich im Bett nicht mehr selbständig drehen. Das Interferon hatte moduliert - aus dem schubförmien Verlauf einen chronisch pogedient Fortschreitenden gemacht. Die Pharmafirma Schering (Betaseron) meinte, dies passiere eben in 2 % aller Fälle....trotzdem schwöre ich heute noch darauf, dass die Interferone das Beste sind, das es bei MS gibt. Ich gehörte halt zur Ausnahme und wer weiß, ob es ohne Interferon nicht gleich gekommen wäre.
Irgendwann fraß mich die Neugiede und ich ließ auf der Immnologie einen kompletten immunologischen Status samt Analyse des HLA-Sytems machen. Dort erfuhr ich dann, dass ich nicht nur das Gen für die MS habe, sondern von der Aggressivität meines Immunsystems in jedem Fall eine Autoimmunerkrankng in meinem Leben bekommen hätte. Aber auch drei solcher Erkrankungen sind bei mir durchaus möglich. Die Zweite hat sich vor einigen Jahren mit einer Raynauld-Symptomatik (Kälteallergie, "Tote Finger-Krankheit") eingestellt.
Witzig ist es halt, wenn du die Htze nicht mehr verträgst, aber dabei Handschuhe tragen musst, weil die Finger vor Kälte schwarz, steif und gefühllos werden.
Der Lagesinn ist nie mehr gekommen und ich habe gelernt, in den Händen Spannung aufzubauen, damit ich ohne hinzuschauen und Spiegel weiß, wo sich die Gliedmassen und in welcher Stellung gerade befinden könnten und ob ich sitze oder liege.
Wenn heute auch viel nicht mehr funktioniert, ist dies kein Problem: Man muss sich in gegebener Situation nur mit Hilfsmitteln und Hilfsdiensten zu helfen wissen.
Immer wachsam und geistig rege bleiben, denn wenn dir wirklich jemand helfen kann, bist es letztlich nur du selbst.