Nummer 14: Ein erotischer Maskenball
69 Dinge, die man zum Sex nicht braucht, die man aber einmal erlebt haben sollte. Nummer 14: Ein erotischer Maskenball
In vielen Situationen im Leben ist es wichtig, das Gesicht seines Gegenübers zu sehen, um ihn taxieren, einschätzen, einordnen zu können. Beim Maskenball jedoch ist das wahre Gesicht völlig unwichtig. Noch mehr als beim Karneval tritt die Persönlichkeit ganz hinter die Maske zurück, übernimmt der Mensch ganz die Rolle, die ihm von der Maske bestimmt wird. Die Maske gestattet es, die eigene Identität zu verstecken und in eine neue Rolle zu schlüpfen.
Auch wenn der/die Maskierte zu jeder Zeit Individuum ist, wird er/sie doch in diesem Moment zur Figur in einem Spiel, zum flüchtigen Bild eines Traumes – und vielleicht zum flüchtigen Spielzeug der Lust. Mystische Begegnungen, Raum für Fantasie, Freiraum im Schutz der Masken. Begierde und Lust ausleben, in selbst gewählte Rollen schlüpfen, an eigene Grenzen stoßen. In der Rolle des Zuschauers kann man die Lust der Anderen erleben und sich inspirieren lassen selbst einzutauchen – und sich tragen zu lassen von der Leidenschaft. Im Schutze der Maske kann man anders agieren, ist man geschützt, muss nicht mit Demaskierung rechnen. Die Anonymität bleibt gewahrt, selbst wenn man erkannt werden sollte.
Ein Maskenball ist die optische Umkehrung des Darkrooms: Anders als im Dunkel, wo die erotischen Erlebnisse auf Haptik und Akustik reduziert sind, wird die erotische Spannung beim Maskenball durch den Überschwang der optischen Reize gleichzeitig gereizt und verstärkt.
Der luxuriöse und prachtvolle venezianische Karneval ist eine der Wurzeln, auf denen erotische Maskenbälle fußen. Der Karneval in Venedig hat eine jahrhundertealte Tradition, bereits Casanova liebte das bunte Treiben, bei dem er sich seinen Gelüsten unerkannt hingeben konnte. Die fantasiereichen Kostüme sind Kunstwerke und tragen etwas von dem bunten Zauber der Lagunenstadt auch in deutsche Ballsäle.
Eine andere Inspiration für erotische Maskenbälle lieferte die kurze Szene im Film "Eyes Wide Shut", die wiederum auf der noch kürzeren Schilderung in Schnitzlers "Traumnovelle" basiert: Im Jahr 1900 erzählt Arthur Schnitzler die Geschichte eines Arztes, der durch einen erotischen Traum seiner Frau kurzzeitig aus der Bahn des bürgerlichen Lebens gerät - hinein in erotische Parallelgesellschaften, in der Lust und Tod eng miteinander verknüpft sind.
Fridolin trat in einen dämmerigen, fast dunklen hohen Saal, der ringsum von schwarzer Seide umhangen war. Masken, durchaus in geistlicher Tracht, schritten auf und ab, sechzehn bis zwanzig Personen, Mönche und Nonnen. Die Harmoniumklänge, sanft anschwellend, eine italienische Kirchenmelodie, schienen aus der Höhe herabzutönen. In einem Winkel des Saales stand eine kleine Gruppe, drei Nonnen und zwei Mönche; von dort aus hatte man sich flüchtig zu ihm hin und gleich wieder, wie mit Absicht, abgewandt. Fridolin merkte, dass er als einziger das Haupt bedeckt hatte, nahm den Pilgerhut ab und wandelte so harmlos als möglich auf und nieder; ein Mönch streifte seinen Arm und nickte einen Gruß; doch hinter der Maske bohrte sich ein Blick, eine Sekunde lang, tief in Fridolins Augen. Ein fremdartiger, schwüler Wohlgeruch, wie von südländischen Gärten, umfing ihn. Wieder streifte ihn ein Arm. Diesmal war es der einer Nonne. Wie die andern hatte auch sie um Stirn, Haupt und Nacken einen schwarzen Schleier geschlungen, unter den schwarzen Seidenspitzen der Larve leuchtete ein blutroter Mund. Wo bin ich? dachte Fridolin.
Der Gesang schwoll wundersam an, das Harmonium tönte in einer neuen, durchaus nicht mehr kirchlichen Weise, sondern weltlich, üppig, wie eine Orgel brausend; und um sich schauend, merkte Fridolin, dass die Nonnen alle verschwunden waren und sich nur mehr Mönche im Saale befanden. Auch die Gesangsstimme war indes aus ihrem dunklen Ernst über einen kunstvoll ansteigenden Triller ins Helle und Jauchzende übergegangen, statt des Harmoniums aber hatte irdisch und frech ein Klavier eingesetzt. Die vorher so edle weibliche Frauenstimme hatte sich in einem letzten grellen, wollüstigen Aufschrei gleichsam durch die Decke davongeschwungen in die Unendlichkeit. Türen rechts und links hatten sich aufgetan, der Raum strahlte in blendender Helle, und Frauen standen unbeweglich da, alle mit dunklen Schleiern um Haupt, Stirn und Nacken, schwarze Spitzenlarven über dem Antlitz, aber sonst völlig nackt. Fridolins Augen irrten durstig von üppigen zu schlanken, von zarten zu prangend erblühten Gestalten; – und dass jede dieser Unverhüllten doch ein Geheimnis blieb und aus den schwarzen Masken als unlöslichste Rätsel große Augen zu ihm herüberstrahlten, das wandelte ihm die unsägliche Lust des Schauens in eine fast unerträgliche Qual des Verlangens. Doch wie ihm erging es wohl auch den andern. Die ersten entzückten Atemzüge wandelten sich zu Seufzern...
(aus der Traumnovelle von Arthur Schnitzler *1862- +1931,
das Zitat ist gemeinfrei, da das Urheberrecht 70 Jahre nach dem Tod des Autors erloschen ist.)
Stanley Kubrik inszenierte aus der oben zitierten schicksalhaften Textpassage eine mystische Messe, in deren Zentrum ein Zeremonienmeister in einem Ritual maskierte Frauen ihren Spielgefährten für die sich anschließende Orgie zuführt.
Hier verbinden sich Elemente des prachtvollen venezianischen Karnevals mit denen der schwarzen Messe: Man kann durch die Räume flanieren, die Mitspieler dank Maske intensiv mustern, stehen bleiben, um anderen zuzusehen, weitergehen und im Vorbeigehen andere streicheln, sich selbst streicheln lassen, anderen Lust verschaffen, seine eigene Lust beflügeln. Geheimnisvoll flanieren die Gäste in ihren Umhängen, sind hinter ihren Masken so verborgen, dass sie sich ungeniert zeigen können.
Gerade diese Anonymität macht nicht nur einen großen optischen Reiz aus, sie erlaubt es, Grenzen zu überschreiten: In den Spielräumen wird nicht gesprochen, ein intensiver Blick durch die Maske genügt, um Kontakt herzustellen, um sich die Erlaubnis zu holen, die Finger wandern zu lassen. Überall geheimnisvolle Gestalten, überall Geräusche der Lust, das Rascheln, das Stöhnen, das Knallen der Peitsche, das Klatschen aneinanderprallender Leiber, die Lustschreie der Damen, die sich in zwei oder mehr Armen winden - ein extrem prickelndes, anregendes Schauspiel, dem man sich nicht entziehen kann, in das man gerne eintaucht, um sich lustvoll treiben zu lassen und die eine oder andere Phantasie zu erfüllen, die einem schon länger vorgeschwebt war und die einen beflügelt hatte.