Seelenspiegel
Wer wie ich jede Sonntagnacht 800 Kilometer zur Arbeit fährt und Donnerstagnacht die gleiche Strecke zurück, ohne umziehen zu wollen - obwohl er es könnte und auch sollte - der ist entweder verrückt oder verliebt. Ich bin letzteres. Statt einer Vorstellung stelle ich hier einfach mal eine kleine Geschichte ein, die ich für das Kurzgeschichtenforum geschrieben hatte. Ich habe sie ein wenig geändert, damit sie hierher passt.
Mein Name ist Christian Svensson und meine Laune war an diesem Montagabend genauso mies wie das Wetter. Nass und kalt rann mir der Regen in den Kragen der schwarzen Lederjacke. Ein Schirm wäre gut gewesen, aber dafür hätte ich eine dritte Hand benötigt, denn die anderen beiden krampften sich wütend um die Griffe von zwei großen Reisekoffern - mein Hausstand zog mal wieder um.
Jetzt trugen meine Füße mich bergab zur Endhaltestelle und damit in die gleiche Richtung, in der auch mein Familienleben soeben marschiert war. Ich schüttelte zornig den Kopf. Heike wusste schon immer, dass es manchmal spät wird - wieso heute dieser Terz?.
Ich bin ein Schnüffler und der Chef schickt mich zu Leuten, die ein Problem mit ihrem Computer haben, von dem nicht jeder wissen muss. Meine Diskretion garantiert, dass auch delikate Fälle keine bleibenden Schädigungen hinterlassen und wenn doch, dann zumindest nicht zu ihnen zurück verfolgt werden können. Ihr Nachbar surft in ihrem WLAN und hat ihre Kreditkartennummern gefunden? Sie müssen ihn nicht gleich erschießen. Soll ich ihn nur aussperren oder noch einen Virus hinüberschicken, der ihnen seine Kontodaten besorgt? Ihre Frau hat die Pornofilme auf ihrem Computer gelöscht und die Kontaktdaten ihrer aktuellen Geliebten gleich mit? Ich hole sie zurück - und die Geliebte auch.
Das benötigt Zeit und spielt sich meistens in den Abendstunden ab. Das ist weder einem geordneten noch einem vertrauensvollen Familienleben förderlich - schließlich sind nicht alle derartigen Probleme männlich. "Du könntest auch mal früher von der Arbeit kommen!", hatte Heike vor einer Woche mit ihrer piepsigen Veronastimme zu mir gesagt. Meine Ohren nahmen das zwar auf, aber mein Hauptrechner arbeitete zu diesem Zeitpunkt noch immer im roten Bereich an einem Problem, dass ich für die letzte Kundin nicht hatte lösen können. So war Heikes Satz ganz hinten im Speicher gelandet, irgendwo bei den anderen Betriebssystem-Updates mit niedriger Priorität, wie »Müll raus bringen«, »Schreibtisch aufräumen« und »Hinsetzen beim Pinkeln«.
Jetzt stand ich hier im nächtlichen Nieselregen mit zwei Koffern in den klammen Händen und "Mister G." in seinem Papageienkäfig auf dem Rücken. In meinem Kopf rannte sich eine Endlosschleife einen Wolf und ich wünschte, Frauen wären wie Computer. Alles, was einen Mikrochip intern hat, liebt mich und ich gebe diese Liebe zurück. Digitale Logik kennt nur 0 oder 1, »Wahr« oder »Falsch« - zwei exakt definierte Zustände, glasklar und eineindeutig.
Frauen funktionieren noch analog. »Vielleicht«, »eventuell«, »könnte«, »ja, aber ...« wären schon schwierig, wenn es sich um feststehende Definitionen handelte. Zusätzlich können Frauen aber die Bedeutung dieser Begriffe auch noch je nach Laune bitweise shiften und dann steht »könnte« plötzlich für »Nein« - welcher Mann soll das noch verstehen?
Die gelb-blaue Bahn kam und während ich einstieg, versuchte ich in meinem Kopf einen Break zu schaffen, indem ich darüber nachdachte, warum diese Gegend hier eigentlich »Klein Moskau« hieß. Vermutlich stammt der Name noch aus der Zeit vor der Wende. Irgendwann war dem Volksmund aufgefallen, dass hier vergleichsweise viel Menschen wohnen, die in ihrer Muttersprache sechs verschiedene Möglichkeiten kennen, das deutsche »s« auszusprechen und den Wodka nicht in Zentilitern, sonder in »Sto Gramm« messen - wobei sich beides nicht wirklich gut miteinander verträgt. So wurde aus dem offiziellen »Großen Dreesch« im Volksmund »Klein Moskau«.
Die Linie 2 beginnt hier an der Hegelstraße und sie ist eine von nur 4 Straßenbahnlinien der Landeshauptstadt von Meck-Pomm. Hier gibt es keine S-Bahn, keine Metro und für die zugelassenen Taxis würde wahrscheinlich ein halbes Fußballfeld als Parkplatz genügen. Schwerin ist eine, nach deutschen Maßstäben gemessen, kleine Stadt und wäre sie 1990 nicht Landeshauptstadt geworden, wäre ihr wahrscheinlich die Bezeichnung "Provinznest" nicht erspart geblieben.
Man hätte ihr damit Unrecht getan, denn Schwerin ist ein einmaliges Kleinod und die Menschen, die hier schon länger leben, sind etwas Besonderes mit ihrer unaufdringlichen, ruhigen Freundlichkeit. Wer auch nur einen Tag hier verbringt, verfällt der Stadt und ihrem Zauber - und das liegt nicht nur an dem wunderschönen Schloss inmitten des Schweriner Sees oder dem Schlosspark, der sich mit seiner Größe und Schönheit nicht hinter Sanssouci verstecken muss.
Wenn alles Leben aus dem Wasser stammt, dann schwamm die Wiege des Lebens irgendwo in einem der sieben Seen in und um diese Stadt. Darum gibt es hier auch keine U-Bahn. Wenn es unbedingt ein "U" sein muss, wäre wahrscheinlich eher eine U-Boot Linie das Richtige. Sie würde ihre Fahrgäste direkt ins Stadtzentrum, ins Museum, Theater oder in den alten Speicher zur Party bringen können. Aber da Schwerin wie die meisten deutschen Städte kein Geld hat, gibt es diese U-Boot-Linie nicht. Außerdem verzichtet man hier auf kostspielige Protzbauten zur Anfütterung von Finanzhaien und ein deutschlandwichtiges, milliardenschweres Prestigeobjekt ist auch nicht in Sicht. So besteht kein Bedarf für mehr als die vierzehn Bus- und vier Straßenbahnlinien, zumal viele Menschen auch hier mit dem Auto unterwegs sind.
Wer sich aber wie ich für die Straßenbahn entscheidet, bekommt für 1,50 Euro zu jeder Tages- und Nachtzeit eine faszinierende Sightseeing-Tour vom Feinsten, egal mit welcher der drei Hauptlinien er fährt. Weite Alleen wechseln sich ab mit kristallklaren Seen mitten in der Stadt, renovierte und künstlerisch gestaltete Plattenbauten inmitten von Grünanlagen werden abgelöst von liebevoll restaurierten Altbauten, die mehr als zweihundert Jahre alt sind - der Blick aus den stets sauberen Waggonfenstern ist ein Labsal für die Seele. Keine Linie führt durch Industrielandschaften oder Büroschluchten, denn so etwas gibt es in dieser Stadt nicht, genau so wenig wie Müll auf den Straßen oder verschmutzte Luft.
In dieser Welt gibt es keine zweite Stadt wie Schwerin und so ist gut zu wissen, das hier der Weltuntergang fünfzig Jahre später kommen wird - zumindest, wenn man dem »Eisernen Kanzler« glauben darf. Wenn in den Großstadtdschungeln der Kampf ums nackte Überleben tobt, die Megastädte in ihren Schulden, im Bauwahn, im Korruptions- und Drogensumpf und im Run um das ganz große Geld versinken, werde ich hier immer noch für 1,50 Euro Straßenbahn fahren.
Mit diesen Gedanken genoss ich den Lichterzauber Schwerins bei meiner nächtlichen Fahrt, und als die Bahn im Zentrum am Marienplatz hielt, war wieder einigermaßen Ordnung in meinem Kopf.
Leise schlossen sich die Türen, die Bahn fuhr wieder an und ich blickte gedankenleer auf die Frau, die sich mir gegenüber mit einer schmalen, unberingten Hand an der Haltestange abstützte. Sie schaute aus dem Fenster und drehte mir dabei den Rücken zu. Ihr Haar war eine Wucht. Es hatte die blassrote Farbe eines Reisigfeuers und fiel in fast geometrisch exakten Wellen bis auf ihren hellen Regenmantel über den schmalen Schultern. Der enge Gürtel betonte ihre Fraulichkeit und ich fand, es war alles mehr als ausreichend vorhanden, was eine Frau zu einer solchen macht.
Waren es die rot lackierten Fingernägel an der weißen Haltestange oder die Art und Weise, wie sie auf kräftigen, aber langen Beinen in hauchzarten Strümpfen jede plötzliche Neigung des Wagens abfing oder der stolz erhobene Kopf - diese Frau verströmte etwas, das mir den Atem nahm und mich zum Träumen brachte. Kein Catwalk-Guru muss es sie lehren und keine Heidi Klum kann es vermitteln. Es gibt diese Frauen wirklich. Sie werden damit geboren und dann perfektionieren sie es, Jahr für Jahr, Mann für Mann - und sie hören nie damit auf. Ich gab ihr fünfunddreißig Jahre und Hamburg oder eine andere Weltstadt als Herkunft, vielleicht auch den Mars oder wahrscheinlicher noch die Venus - den Planet der Liebe.
Fünf Minuten später drückte sie mit ihrer gepflegten Hand den roten Ausstiegsknopf und ich fühlte ein leises Bedauern. Sie musste sehr attraktiv sein - das stand für mich fest. Die Art, wie sie mit selbstbewusst erhobenem Kopf da stand - es konnte nur der Stolz einer schönen Frau sein.
Was hätte es sonst sein sollen? Ich konnte meinen Blick nicht von ihr lösen und hoffte, ja betete fast, sie möge sich nur für einen winzigen Moment umdrehen - zu mir. Ich hätte gerne ihre Augen gesehen. Dann kam der Platz der Freiheit - die Bahn hielt, die Türen öffneten sich und sie machte zwei kleine Schritte.
Plötzlich, schon im Aussteigen, flog ihr Kopf zu mir herum. Nachtdunkle Augen fingen meinen Blick, kirschrote Lippen verzogen sich zu einem schelmischen Lächeln - und dann flog mir eine Kußhand entgegen. Den Einschlag und mein Gesicht dabei quittierte sie mit einem lauten, herzhaften Lachen - und verschwand um die Ecke des Wagons, als sei sie nie da gewesen. Für einen Moment glaubte ich noch das Echo ihrer Schritte auf den Steinen des Gehwegs zu hören, dann schlossen sich die Türen der Bahn und ich war wieder allein mit meinen Gedanken.
Natürlich wusste ich, dass ich sie nie wieder sehen würde und wenn doch, hätte sie wahrscheinlich keinen zweiten Blick für mich übrig - Frauen wie sie spielen in einer anderen Liga. Sie war fort, aber die Erinnerung an eine Sekunde des vollkommenen Glücks würde mir bleiben.
Ich blickte aus dem Fenster, aber die Schwärze der Nacht dahinter zeigte mir nicht sie, sondern nur mein Spiegelbild - ein Mann mit Dreitagebart und müden, ernüchterten Augen. Sie war keine fünfunddreißig und sie kam auch nicht von der Venus. Eher von einer Bridge- oder Rommèrunde. Für den Preis ihre schönen Zähne hinter den roten Lippen hätte ich mir wahrscheinlich einen Mittelklassewagen kaufen können und die Flecken auf ihrem Dekolletee waren kein verschüttetes Make-up, sondern Spuren des Alters.
Ich schüttelte den Kopf und lachte in den leeren Wagon hinein. In dieser Welt war alles möglich. Alte Jungfern, die erst zwanzig sind, gibt es genug. Aber jetzt war ich einer Frau begegnet, die mindestens sechzig Jahre hinter sicht hatte - mit den vor Lebenslust und Witz sprühenden Augen einer Zwanzigjährigen.
Der Mann im reflektierenden Fensterglas lächelte jetzt. Es ist nie die faltenlose Haut - es sind immer die Augen - Spiegel der Seele ...
Meine große Liebe hat diese Seelenspiegel siebenfach. Sie sind blau und doch kristallklar. Ihr Name ist »Schwerin« ...
(C) RHCSo, August 2013