ganz anderer medizinischer Umgang in Afrika, bei Covid19
Artikel in der NZZDakar, 14. Mai 2020, David Signer ·
Ich besuche Raphaël Benamouzig, einen Bekannten von mir, der als psychiatrischer Assistenzarzt an einem Spital arbeitet. Wir diskutieren mit Mundschutz, mit dem gegebenen Abstand und desinfizieren uns immer wieder einmal die Hände. Was irritierend ist an Gesprächen unter diesen Umständen: Gerade bei Leuten, die ironische Untertöne lieben und diese vielleicht lediglich mit einem leichten Lächeln markieren, führt die Maske zu Missverständnissen, weil die Mimik unsichtbar bleibt. Und nach ein paar Minuten merkt man, dass man sich das Lächeln auch sparen kann, weil es sowieso niemand bemerkt.
Raphaël erzählt mir, dass er nun Konsultationen per Whatsapp durchführe und dass das eigentlich ein Vorteil sei. Offenbar gab es sowieso immer das Problem, dass die Patienten nicht pünktlich oder überhaupt nicht zu den Terminen erschienen, manchmal auch, weil sie schlichtweg den Bus nicht bezahlen konnten. Nun ruft er einfach an, fragt, ob sie die Medikamente regelmässig einnähmen, wie es ihnen gehe, und führt gelegentlich sogar Therapien per Telefon durch. Dem Psychiater fällt auf, dass die Ärzte in Europa viel zurückhaltender sind, wenn es darum geht, einem Patienten die Telefonnummer zu geben, aus Angst, die eigene Privatsphäre zu gefährden. Er hatte allerdings nie den Eindruck, dass die Patienten in Senegal den Zugang missbrauchen. Sie rufen lediglich an, wenn sie in Not sind, und das findet er auch in Ordnung. «Das Smartphone ist dem eher flexiblen Lebensstil der Leute hier eigentlich gut angepasst», sagt er.
Zu reden gibt die Entscheidung der Regierung, in Senegal den Covid-19-Patienten routinemässig das umstrittene Hydroxichloroquin in Kombination mit dem Antibiotikum Azithromycin abzugeben, obwohl die Therapieform noch wenig erforscht ist und Nebenwirkungen zeitigt. Raphaël sieht das pragmatisch. «Es gibt einfach keine Alternative. Die Erfahrungen hier sind gut. Was soll man ihnen sonst geben? Die ganze Diskussion um Nebenwirkungen ist hier viel weniger verbreitet als in Europa. Man ist froh, wenn es überhaupt ein Medikament gibt.»
Ein Grund für die Popularität dieser Behandlung liegt vermutlich darin, dass der Virologe Didier Raoult, der sie in Frankreich propagiert, in Dakar geboren wurde und hier als «halber Senegalese» wahrgenommen wird. Es ist paradox, dass sich viele Afrikaner einerseits davor fürchten, vom Westen für Impfungen und Behandlungen als Versuchskaninchen missbraucht zu werden, andererseits aber relativ sorglos auf Medikamente zurückgreifen, wenn sie sie als «afrikanisch» empfinden, so wie den vom madagassischen Präsidenten lancierten Artemisia-Cocktail. Der Staatschef ging so weit zu behaupten, die Ablehnung seines Medikaments im Westen rühre nur daher, dass es aus Afrika stamme, sei also rassistisch.
Viele Experten gingen davon aus, dass die Covid-19-Zahlen in Afrika explosionsartig ansteigen und zu Panik und sozialen Unruhen führen würden. Das ist offensichtlich nicht der Fall. Raphaël macht eine interessante Beobachtung dazu: «Vor allem auf dem Land gab es sowieso nie Zugang zu Beatmungsgeräten oder gehobener medizinischer Versorgung. Wenn Leute jetzt an Covid-19 sterben, so ist das nicht viel anders als vorher.» Es kommt hinzu, dass man in Senegal – im Gegensatz zu Europa – bei einem Todesfall normalerweise nicht fragt, woran der Betreffende gestorben ist. Er ist einfach tot, warum also noch lange nachforschen?
In Senegal spielen mystische und magische Vorstellungen im Zusammenhang mit Krankheiten und Todesfällen eine wichtige Rolle, bei psychischen Erkrankungen ganz besonders. Oft sucht man die Ursache in der Hexerei oder bei Geistern und konsultiert zu diesem Zweck einen Heiler. Der Psychiater erzählt von diversen Fällen, bei denen die Angst vor böser, krank machender Verfolgung eine wichtige Rolle spielte. In einem Beispiel geht es um einen Mann mit einer Infektion am Fuss. Statt zum Arzt ging er zu Heilern, die unsichtbare Würmer entfernten, die ihm Widersacher angeblich angehext hatten. Das Seltsame war, dass der Mann selbst Mediziner war, aber nicht ins Spital ging, selbst als die Entzündung gefährlich fortschritt. Am Ende musste man ihm beinahe eine Zehe amputieren. Bei einem anderen Beispiel geht es um eine Frau, die scheinbar mit einem Geist verheiratet ist. Der Dämon ist so eifersüchtig, dass es der Frau unmöglich ist, normale, menschliche Männer zu treffen. Es stellt sich natürlich die Frage, inwiefern sie sich ihre Unfähigkeit, Männer kennenzulernen, durch eine solche phantastische Konstruktion erklärt und sich so entlastet. Aber die Vorstellung der Verbindung mit einem Geist ist in weiten Teilen Afrikas verbreitet, und es lässt sich fragen, wo es einfach um kollektive Vorstellungen geht und wo um Wahn. Anders gesagt: Wo hört die Religion auf und beginnt die Pathologie? Interessanterweise scheint diese Frage zwar theoretisch komplex, in der Praxis tun sich die Leute jedoch nicht schwer damit. Obwohl jeder hier diese Ideen kennt und sie für möglich hält, sind sich die Senegalesen ziemlich einig darin, wann jemand die Grenze des normalen Geisterglaubens überschreitet und ins Reich der Verrücktheit abgleitet.
Erstaunlicherweise sind solche übernatürlichen Erklärungen im Falle von Covid-19 laut dem Psychiater jedoch wenig verbreitet. Auch das spricht für die Flexibilität der Senegalesen. Je nach Fall geht man zwanglos von animistischen zu islamischen oder zu wissenschaftlichen Erklärungen über. Die verschiedenen Register existieren nebeneinander; es ist eher «sowohl als auch» als «entweder oder». Dazu passt die derzeitige Situation. Der Präsident lockerte kürzlich die Massnahmen, obwohl die Fallzahlen steigen wie noch nie; Moscheen und Kirchen sollten ihre Tore wieder öffnen. Der Bischof kündigte jedoch sogleich an, die Kirchen blieben geschlossen. Die Imame einiger wichtiger Moscheen taten es ihm gleich. Für einmal erwiesen sich die religiösen Führer und auch ein grosser Teil der Bevölkerung als rationaler als die Regierung und auch als rationaler als viele Bürger im «aufgeklärten» Westen, die mit allerlei Verschwörungstheorien gegen die Massnahmen auf die Strasse gehen.