Ich versuche noch einmal
die verschiedenen Argumentationslinien zu ordnen:
1. "Die Entscheidung über heilbare oder unheilbare Erkrankungen muss natürlich von einem Ärzteteam getroffen werden"
Hierzu möchte ich einwenden, dass ich auch einem Ärzteteam diese Entscheidung nur sehr bedingt zutraue. Darf ich auf einschlägige Veröffentlichungen dazu verweisen, z. B.: Schaller C, Kessler M. On the difficulty of neurosurgical end of life decisions.
J Med. Ethics. 2006; 32(2) 65-69.
Die Kollegen Schaller und Kessler untersuchten darin systematisch die Behandlungsergebnisse und Krankheitsverläufe bei mehr als 130 neurochirurgischen Intensivpatienten, die von ihren Behandlern als unrettbar beurteilt worden waren, dennoch wurde die Therapie fortgeführt und siehe da: in dieser Gruppe der "hoffnungslosen Fälle" überlebten einige Patienten ohne Defizit und erholten sich vollständig ! Wer jetzt einwendet: "Ja, Sterbehilfe soll ja auch nur für unheilbare Krebspatienten gelten", dessen Aufmerksamkeit darf ich wieder auf den aktuellen Fall in Belgien lenken: hier hat sich ein Depressiver das Recht auf Sterbehilfe "erstritten". Die schiefe Ebene ist eröffnet, zunächst "nur" Krebspatienten, dann hoffnungslose Unfallopfer und Dauerkomatöse, dann Depressive, was dann ? Wo wird da noch eine (immer willkürliche) Grenze gezogen ?
Meine Antwort daher: Ärzte auch im Team sind m.E. prinzipiell gar nicht in der Lage und berechtigt, eine Erkrankung als unheilbar oder nicht mehr lebenswert zu bewerten !
2. "Der Patientenwille ist immer zu berücksichtigen, deshalb gibt es ja Patientenverfügungen."
Abgesehen von der merkwürdigen Beutelschneiderei, die Anwälte mit diesen Verfügungen betreiben: wenn die Argumentation aus 1. gilt, um wie viel mehr ist dann gar ein medizinischer Laie mit der Frage überfordert, für jeden gesundheitlichen Zustand eine genaue Entscheidung treffen zu können, ob sie als "lebenswert" oder "lebensunwert" gelten soll ? Und das auch noch weit bevor er diese Situation überhaupt selbst erlebt !?
3. "Ein Sachwalter kann den Patientenwillen ja an Stelle des Todkranken durchsetzen."
Wie wird die Unabhängigkeit dieses Sachwalters, die vor dem Gesetz und unter moralischen Gesichtspunkten doch wohl sicher gelten muss, denn tatsächlich gewährleistet ? In der Praxis ist es doch tatsächlich so, dass es enge Angehörige, Kinder, Ehepartner des Kranken sind, die für ihn entscheiden. Unterstellen wir ihnen natürlich in der Mehrzahl der Fälle lautere Absichten: unabhängig und objektiv sind sie aber doch wohl nicht ?!
4. "Die medizinische Behandlung bis ins hohe Alter hinein ist doch gar nicht mehr bezahlbar"
Dieses Argument halte ich für das gefährlichste Argument aller möglichen, denn es bringt durch die Hintertür einen neuen Aspekt in die Diskussion: wo zunächst noch das Recht auf aktive Sterbehilfe als eigenbestimmtes Wahlrecht propagiert wird erweitert das wirtschaftliche Argument das Thema und macht es gleichsam zur Verpflichtung: wenn bislang zumindest noch die Wahl besteht, ob ein 60 oder 80jähriger Kranker weiter behandelt werden soll oder nicht und ihm bestenfalls das Recht erstritten werden soll, diese Behandlung abzulehnen, dann wird mit der Einführung der Wirtschaftlichkeitsklausel das Ganze sogar umgedreht. Plötzlich muss sich der, der bis an sein Lebensende mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln behandelt werden will, oder auch nur der, der Selbsttötung in jeder Form aus persönlichen ethischen oder religiösen Gründen ablehnt rechtfertigen ! Diese Argumentation finde ich brandgefährlich ! Keine Dialyse ab 60, wie in GB, darüber regen wir uns hier jetzt noch (zurecht) auf und finden das unmenschlich. Wenn der "Spareffekt" der aktiven Sterbehilfe allerdings so weiter vorgetragen wird, dann befinden wir uns binnen Kurzem in der gleichen Situation. Das ist nicht mehr ethisch, sondern nur noch unmenschlich.
5. "Wir brauchen endlich ein Recht auf aktive Sterbehilfe"
Wir haben bereits jetzt die Möglichkeit der (in meinen Augen fragwürdigen, aber trotzdem nach geltenden gesetzlichen Bedingungen unbedingt zu befolgenden) Patientenverfügung, die den von docffm beschriebenen Spielraum gewährt. Wozu dann noch eine gesetzliche Regelung der Tötung auf Verlangen ?
6. "Es ist eines zivilisierten Staates unwürdig, sich auch dieselbe Ebene herabzubegeben wie Verbrecher, so verabscheuungswürdig die Taten des Täters auch sein mögen und so "gerechtfertigt" die Todesstrafe in diesen Fällen auch erscheinen mag"
D´accord ! Die Todesstrafe ist in Europa geächtet. Trotzdem fordert der Präzedenzfall in Belgien die Beschäftigung mit dieser Frage ein, denn der belgische Inhaftierte hat gerichtlich das Recht auf genau diese Todesstrafe zugesprochen bekommen.
7. "Das mit dem sozialverträglichen Frühableben war soweit ich mich erinnere eher ironisch gemeint und bezog sich auf das Frühableben von Rauchern etc., welches der Gesellschaft (vermeintlich) Kosten durch nicht anfallende Rentenzahlungen erspare."
Diese Erinnerung ist schlicht falsch. Vilmar sah sich damals in seiner Eigenschaft als Ärztekammerpräsident wieder einmal mit sinkenden Vergütungen für die Behandlung Kranker konfrontiert und antwortete mit dem Bonmot des "sozialverträglichen Frühablebens" für dann noch weniger gut versorgte, vor allem ältere Menschen, die ja auch am ehesten medizinischer Leistungen bedürften. Was vielleicht von Unbedarften als Ironie empfunden wurde war doch in Wirklichkeit sehr ernst gemeint, denn natürlich griff Vilmar damit das auch hier unter 4. aufgeführte Wirtschaftlichkeitsargument auf. Wenn die Gesellschaft sich nicht ihrer Verantwortung der Pflege und Versorgung Kranker, Schwacher und Hilfsbedürftiger stellen will und mit Kostenargumenten dagegen argumentiert, dann kann sie auf das Etikett "Moral" gleich ganz verzichten, denn Moral hat sie dann nicht mehr. Darüber hinaus entscheidet die Gesellschaft das ja auch gar nicht, vielmehr (und das ärgert mich besonders) werden der Gesellschaft von bestimmten Interessengruppen verlogene "Lösungsvorschläge" untergeschoben. Niemand votiert offen für Leistungsbegrenzung bei der Gesundheitsversorgung, die geliebte Kur, Massagen auf Rezept, Krankenschein auf Kassenkosten, wehe das nähme dem Deutschen Michel jemand ! Aber so ein wenig "Recht auf aktive Sterbehilfe", früher Tod in jüngeren Jahren und dadurch ein wenig Geld für die Jungen und Gesunden sparen, das kann man doch schon mal vorschlagen !?
Geht es noch widerlicher, durchsichtiger ?!