Zum Tod von Florian Schneider
Halb Wesen, halb Überding
Wohl keine deutsche Musikgruppe war einflussreicher als Kraftwerk. Mitverantwortlich dafür war Bandgründer und Klangpionier Florian Schneider - jetzt ist er im Alter von 73 Jahren verstorben.
Florian Schneider hielt nie viel davon, über sein Leben und seine Arbeit zu plaudern. Entsprechend einsilbig waren die wenigen Interviews, die er der Presse gewährte.
Das belegen nicht zuletzt die knappen drei Minuten, in denen eine TV-Reporterin 1998 vor einem Kraftwerk-Konzert in Rio de Janeiro versuchte, mit dem freundlichen, aber stoisch reservierten Musiker ins Gespräch zu kommen: "Was können wir von dem Konzert erwarten?", fragt die Frau. "Wir versuchen unser Bestes!", antwortet Schneider. "Welche Songs werden sie spielen?" Schneider: "Alle."
Für den Bruchteil einer Sekunde sieht man in diesem Moment, wie sich Schneider breit lächelnd abwendet, amüsiert von dem Gespräch, das vor allem durch ihn selbst seltsam wurde. Der Mitgründer einer der wohl faszinierendsten, aber auch unnahbarsten Popbands der Geschichte pflegte auch hier vor allem sein Image als Phantom.
Als gesichert gilt, dass Florian Schneider am 7. April 1947 als Sohn des berühmten Architekten Paul Schneider-Esleben geboren wurde. Allerdings gehen bereits darüber die Expertenmeinungen auseinander, wo genau er das Licht der Welt erblickte - ob nun im Kurort Öhningen, in der Nähe des Bodensees, oder doch in Düsseldorf. Dort ging Florian Schneider-Esleben, der später auf den zweiten Teil seines Nachnamens verzichtete, zur Schule. Er galt als "kauzig" und fiel durch seinen "besonderen Gang" auf, erinnerte sich sein kurzzeitiger Kraftwerk-Kollege Michael Rother einmal.
Das Düsseldorf, in dem Schneider aufwuchs, war eine noch von den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs gezeichnete Stadt. Den Soundtrack dazu boten auch Platten der Musique concrète, die Schneider in der Sammlung seiner Eltern entdeckte. Mit seiner Querflöte war er bald in diversen Düsseldorfer Jazzbands unterwegs.
An der Robert Schumann Hochschule absolvierte er ein Musikstudium und lernte 1968, an der Kunstakademie in Remscheid, Ralf Hütter kennen, der einen ähnlich bürgerlich-privilegierten Hintergrund wie Schneider hatte.
"Ralf und Florian": Erste Entwürfe elektronischer Popsongs
Damals begehrte auch in Deutschland eine junge Generation gegen das Establishment auf. Es galt, das Alte herauszufordern und einen individuellen Weg zu finden, auch in der Musik. Dem japanischen Magazin "Silverstar Club" verriet Schneider 1988 in seinem vermutlich einzigen detaillierten Interview, dass er von Sergej Eisenstein, Fritz Lang, Kurt Schwitters, Joseph Beuys und James Brown sowie vom Dadaismus und Futurismus beeinflusst worden sei.
Eine Weile flötete Schneider in einer Band mit dem renitenten Namen Pissoff, bis er 1968 mit Ralf Hütter und wechselnden Komparsen die "Organisation zur Verwirklichung gemeinsamer Musikkonzepte" startete. Die der Einfachheit halber nur "Organisation" genannte Band spielte instrumentalen Kunstrock, der an Pink Floyd erinnerte, und veröffentlichte 1970 ein Debütalbum, das unbemerkt blieb. Noch im selben Jahr wagten Schneider und Hütter als Kraftwerk einen Neuanfang.
Auf "Kraftwerk" und "Kraftwerk 2" verfeinerten sie zunächst nur ihren instrumentalen Avantgarde-Rock mit wechselnden Mitmusikern. Das änderte sich 1973 mit dem Album "Ralf und Florian", eingespielt in ihrem inzwischen von Legenden umwehten Düsseldorfer Kling-Klang Studio, bei dem erstmals Synthesizer und ein Vocoder zum Einsatz kamen. Zu hören waren erste Entwürfe elektronischer Popsongs, darunter "Tongebirge".
Bereits der Blick auf die Plattenhülle von "Ralf und Florian" machte den Richtungswechsel deutlich, denn auf dem in Schwarz-Weiß gehaltenen Foto trägt Schneider Anzug und Krawatte sowie einen akkuraten Seitenscheitel zur Schau - und wäre so auch als Laborleiter eines Chemiekonzerns durchgegangen. Damals begannen Schneider und Hütter ihr so raffiniertes wie auch humorvolles Spiel mit Verweisen auf die deutsche Alltagskultur. Statt als langhaarige Hippies, wie es in der Rockszene jener Zeit üblich war, inszenierten sich die Kraftwerk-Chefs provokant als spießige Kunstfiguren.
Wobei Schneider sich in dem japanischen Interview demonstrativ als Europäer zeigte, dem Nationalismen fremd waren: "Wir waren die erste Nachkriegsgeneration und sind in einer kosmopolitischen Welt aufgewachsen", sagte er. "Wir leben nahe der Grenze zu Belgien, Frankreich, Holland und der Schweiz. Wir haben einige europäische Sprachen gelernt und fühlen uns auch in diesen Ländern zu Hause. Es ist für uns natürlich, paneuropäisch zu fühlen, und wir finden, dass die Grenzen innerhalb Europas eigentlich aufgehoben werden sollten."
In Fahrt kamen Kraftwerk 1974 mit dem Album "Autobahn", das längst dem Weltkulturerbe der Popgeschichte zugeordnet wird: eine Platte, die der globalen Musikwelt einen Starkstromschlag versetzte. Virtuos kombinieren Schneider und Hütter darauf so reduzierte wie eingängige Melodien mit Synthesizern - und erstmals auch Gesang.
Auf einmal weltbekannt
Denn Florian Schneider konzentrierte sich damals mehr und mehr auf die Perfektion von Klängen und die technischen Möglichkeiten, die menschliche Stimme zu manipulieren. Atemberaubend fanden diese Bemühungen erstmals im Titelstück "Autobahn" zusammen, das sich auf dem Album über 22 Minuten und 30 Sekunden erstreckt und, in gekürzter Version, als erster deutschsprachiger Song überhaupt die US-Charts eroberte. Kraftwerk, das Avantgarde-Projekt aus der Düsseldorfer Kunst- und Künstlerszene, war auf einmal weltbekannt.
Schneider und Hütter festigten zudem mit der von Emil Schult gemalten Albumcover-Illustration einer Autobahn ihr so deutsches wie rätselhaftes unnahbares Image, was die Faszination für dieses Gesamtkunstwerk insbesondere im Ausland noch zusätzlich steigerte. Klar war, dass es hier um einen modernen europäischen Musikentwurf ging, der Lichtjahre vom Rock’n'Roll, Blues und Jazz der bis dahin dominierenden Engländer und Amerikaner entfernt war. "Krautrock" nannten Kritiker diese neuartige Musik, die damals, zu Beginn der Siebzigerjahre, in Deutschland entstand und durch Bands wie Can, Faust, Tangerine Dream, Neu! und eben auch Kraftwerk geprägt wurde.
Selbstverständlich distanzierten sich Schneider und Hütter stets von diesem Label, dennoch teilten sie mit den anderen diesem Genre zugerechneten Künstlern den Willen, eine neue Klangsprache zu definieren. Den von Kraftwerk für ihre Musik genutzten Begriff "Techno Pop" erklärte Schneider folgendermaßen: "Unsere Musik entstand durch die Hilfe von 'Techno'-Logy, wie eine Versöhnung der Menschheit mit der Natur. Und diese Sounds sind 'Pop'-ulär. So finden wir 'Techno Pop' für uns passend."
"Als Vegetarier essen wir gerne Spinat"
Florian Schneider
Viel Inspiration zog Schneider offenbar, lange bevor es in europäischen Großstädten zum Hipster-Kanon wurde, aus der japanischen Kultur und dem Veganismus: "Wir trinken gewöhnlich grünen Tee, Kaffee und ein wenig Bier", erklärte er 1988 die Genuss-Modalitäten von Kraftwerk. "Als Vegetarier essen wir gerne Spinat, Wakame Seetang-Salat, Tofu und Reis."
Auf "Autobahn" folgte das Album "Radio-Aktivität", bei dem das Kraftwerkspersonal um Karl Bartos und Wolfgang Flür erweitert wurde, das dann zusammen Elektronik- und Pop-Meilensteine wie "Trans Europa Express", "Die Mensch-Maschine", "Computerwelt" und "Electric Cafe" produzierten, jeweils als deutsche und englischsprachige Version.
Zu hören war darauf eine tatsächlich neue Musikform, die wie eine Botschaft aus der Zukunft wirkte. Passend dazu verfeinerten Kraftwerk ihr öffentliches Erscheinungsbild als menschliche Roboter, die sie zunehmend bei Konzerten einsetzten und für Pressefotos nutzten - "Mensch-Maschinen" eben, "halb Wesen und halb Überding", wie es im Titelstück des 1978 veröffentlichten Albums heißt.
Kraftwerk schufen damit eine Blaupause für Genres wie Hip-Hop und Techno sowie zahllose Künstler wie David Bowie, Radiohead, Depeche Mode oder Björk. Kein Wunder, dass die "New York Times" Kraftwerk schon Ende der Neunzigerjahre zu den "Beatles of Electronic Dance Music" kürte. David Bowie schrieb für sein Album "Heroes" (1977) die Florian-Schneider-Hommage "V-2 Schneider".
Aber irgendwann muss Florian Schneider die Lust an seiner berühmten Band verloren haben. Warum? Das wird vermutlich nie zu klären sein, im gegen zu viel Öffentlichkeit stets verriegelten Kraftwerk blieb es dazu immer schon sehr still.
Belegt ist, dass das englische Pop-Fachblatt "NME" im Januar 2009 Schneiders Ausstieg meldete. Die vielfach kolportierte Geschichte, dass der Trennung der beiden radsportvernarrten Kraftwerk-Gründer Schneider und Hütter ein banaler Streit um eine Fahrradpumpe vorausgegangen sei, ist zwar lustig, aber vermutlich Unsinn.
Unter Ralf Hütters Regie geben Kraftwerk immer noch Konzerte in aller Welt und verwalten das Erbe ihrer einflussreichen Band. Florian Schneider meldete sich 2015 noch mal mit dem ökologisch bewegten Track "Stop Plastic Pollution", bevor er sich endgültig ins Private zurückzog.
Nun ist Florian Schneider an einer Krebserkrankung gestorben, am 21. April, nur wenige Tage nach seinem 73. Geburtstag.