Parallelgesellschaften in Deutschland
Auf "Spiegel Online" beschäftigt sich der Publizist Henryk M. Broder im Rahmen der allgemeinen Integrationsdebatte mit dem Thema Parallelgesellschaften und Migration. Er kommt zu dem Schluss, dass multikulturelle Parallelwelten vor allem positive Auswirkungen auf die Gesellschaft haben können. Die in Deutschland herrschende allgemeine Skepsis gegenüber Migranten und die häufig bedingungslos geforderte Integration von ausländischen Mitbürgern erkennt er auch in totalitären Diktaturen wieder - hier gebe es nur eine homogene Gesellschaft ohne kulturelle Vielfalt.
Am Beispiel Israel und an New York könne man erkennen, dass selbstverständliche Parallelgesellschaften ohne Integrationsdruck positive Wirkungen auf die Gesellschaft haben können. Gerade die vielen Parallelgesellschaften würden dort das gesellschaftliche Zusammenleben auszeichnen und aufwerten.
Deutschland debattiert über Integration - aber warum sollen Einwanderer sich überhaupt an die Mehrheitsgesellschaft anpassen? Solange sie Recht und Gesetz achten, ist ihr Leben schlicht Privatsache. Und Parallelwelten können sogar nützlich für uns alle sein.
Als Herr Hu mit seiner Frau vor 30 Jahren in Deutschland ankam, waren beide Anfang 20, mittellos und sprachen kein Wort Deutsch. Was sie bei sich hatten, passte in zwei große Stofftaschen. Ihr Startkapital war ein Notizbuch mit Kochrezepten und ein Zettel mit den Adressen einiger Chinesen, die schon eine Weile in Deutschland lebten. Gleich nach der Ankunft bezogen sie eine Dachkammer und fingen an zu arbeiten - als Küchenhilfen in einem China-Restaurant.
Und daran hat sich im Prinzip bis heute wenig geändert, wenn man davon absieht, dass sie ein eigenes Restaurant haben, das für seine authentischen Gerichte bekannt ist, und dass sie nicht mehr zur Untermiete in einer Dachkammer sondern in einer geräumigen Wohnung leben, die ihnen gehört. Herr Hu steht in der Küche, wo er fünf Köche kommandiert, Frau Hu nimmt die Bestellungen der Gäste entgegen.
Die Hus haben zwei Kinder, eine Tochter und einen Sohn, die beide Chemie studieren. "Wir haben lange überlegt, auf welche Uni wir sie schicken sollen", sagt Frau Hu, "schließlich haben wir uns für Aachen entschieden, für Chemie gibt es nichts Besseres." Daheim bei den Hus wird Chinesisch gesprochen, sie haben viele chinesische Stammkunden, und die meisten Freunde, mit denen sie privat verkehren, sind auch Chinesen.
Die Hus leben in einer "Parallelgesellschaft", nur wissen sie es nicht, weil sie noch nie jemand danach gefragt hat, ob sie sich integriert fühlen. "Es geht uns gut", sagt Frau Hu, "wir haben uns eingelebt".
Swetlana, 1964 in Kiew geboren, kam 1992 nach Deutschland, mit ihrer drei Jahre alten Tochter Marina auf dem Arm. Ihre Eltern zogen zwei Jahre später nach, beide "nicht fromm, aber Juden", zu Hause wurde Russisch und Jiddisch gesprochen. Swetlana lernte "vom ersten Tag" an Deutsch, besuchte eine Fachhochschule, wo sie Design studierte. Das Diplom machte sie mit der Note 1 und fand danach gleich einen Job im Bereich "Corporate Design" bei einer großen Agentur. Tochter Marina, inzwischen 22, studiert an der London School of Economics, Swetlanas Eltern, beide 71, "arbeiten Tag und Nacht und haben nur Umgang mit sich selbst", der Vater hat in der Sowjetunion Maschinenbau gelernt, die Mutter Wirtschaftslehre.
Auch Swetlana lebt zum Teil in einer Parallelgesellschaft, in der russisch gesprochen, gegessen und gefeiert wird. Aber weder möchte sie zurück nach Kiew, noch meidet sie den Umgang mit "den Deutschen". Im Gegenteil, zum Tag der deutschen Einheit hat sie für die Kunsthalle Schirn in Frankfurt ein Projekt gestaltet ("Stand der Dinge"), an dem sich viele Frankfurter Bürger beteiligten, indem sie zum "Frankfurtdankfest" Gaben brachten, mit denen das Stadtwappen "gefüllt" wurde.
Diktaturen kennen keine Parallelgesellschaften
Die Hus und Swetlana sind einander nie begegnet. Sie wissen nichts voneinander, leben sozusagen in parallelen Welten. Dennoch haben sie etwas gemeinsam: Sie sind nicht Gegenstand öffentlichen Interesses. Es gibt keine "Chinesen-Konferenz" beim Bundesinnenminister und keine speziellen Integrationsprogramme für Juden, die vor 20 Jahren aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland gekommen sind. Niemand will wissen, welcher Religion die Hus angehören und in welcher Sprache Swetlana betet, falls sie es überhaupt tut. Es genügt, dass sie die geltenden Gesetze respektieren, bei Rot an der Ampel halten und einen Beitrag zum Bruttosozialprodukt leisten. Alles Übrige ist Privatsache und geht niemanden etwas an.
Warum also hat der Begriff "Parallelgesellschaft" einen so schlechten Klang? Warum will man "Bürger mit Migrationshintergrund" nötigen, in der Mehrheitsgesellschaft aufzugehen, wenn sie lieber unter Ihresgleichen bleiben möchten?
Nur primitive Gesellschaften, die weder eine horizontale noch eine vertikale Differenzierung zulassen und Diktaturen, die alle Lebensbereiche kontrollieren, kennen keine Parallelgesellschaften. Weder im Dritten Reich noch in der DDR gab es Parallelgesellschaften, wenn man von den Enklaven absieht, in denen "innerer Widerstand" oder Freikörperkultur praktiziert wurden. Überall dort, wo Gesellschaften nicht auf der Stelle treten, sondern beweglich sind, kommt es zwangsläufig zur Entstehung von Parallelgesellschaften.
"China Town" und "Little Italy" in New York sind die bekanntesten Beispiele, aber nicht die einzigen. Auf der East Side von Manhattan gab es das Yorkville, rund um die 86. Straße, die "German Broadway" genannt wurde; in den Washington Heights, am nördlichen Ende von Manhattan, lebten um 1900 vor allem Einwanderer aus Irland, in den dreißiger und vierziger Jahren waren es deutsche Juden, in den fünfziger und sechziger Jahren Griechen. Eine Parallelgesellschaft löste die andere ab. Heute prägen Einwanderer aus der Karibik das Straßenbild in den Washington Heights. Morgen könnten es Inder sein. "Little Odessa" auf Coney Island ist dagegen seit langem fest in russischer Hand. Und in Greenpoint in Brooklyn kommt man ohne polnische Sprachkenntnisse nicht weit. Eine Fahrt mit der U-Bahn durch New York ist eine Reise von einer Parallelgesellschaft zur anderen.
Geborgenheit und Überschaubarkeit
In Israel, wo fast jeder Einwohner einen Migrationshintergrund hat, gab es bis in die neunziger Jahre mindestens ein Dutzend deutsche "Landsmannschaften". Die rheinischen Juden feierten den Karneval, die bayerischen das Oktoberfest, die Königsberger den Geburtstag von Immanuel Kant. Die K.-u.-k.-Juden aus Österreich, Ungarn und der Bukowina pflegten ihr eigenes Kulturleben, das taten auch die "Polen", die "Rumänen", die "Litauer". Heute stellen die "Russen" die größte Parallelgesellschaft, mit eigenen Zeitungen, Radiostationen und Clubs. Allein in der Altstadt von Jerusalem koexistieren vier Parallelgesellschaften: eine griechisch-orthodoxe, eine moslemische, eine jüdische und eine armenische. Und dann gibt es noch die Samaritaner bei Nablus, die "Schwarzen Juden" bei Dimona, die Bahai in Haifa, die "Jews for Jesus" und die allerletzten Linken, die sich jeden Freitagnachmittag im Cafe Tamar in der Sheinkin-Straße in Tel Aviv treffen. Lauter Parallelgesellschaften, die wie Papierschiffchen in einem Teich schwimmen, ohne sich zu berühren.
Nur in Deutschland tut man sich mit der Erkenntnis schwer, dass Parallelgesellschaften unvermeidlich, vielleicht sogar gut und nützlich sind. Sie geben ihren Angehörigen das Gefühl der Geborgenheit, der Überschaubarkeit, die ihnen große Einheiten nicht bieten können. Davon abgesehen: Parallelen treffen sich im Unendlichen, dort wo die Differenzen gegen Null tendieren.
Als Herr Hu mit seiner Frau vor 30 Jahren in Deutschland ankam, waren beide Anfang 20, mittellos und sprachen kein Wort Deutsch. Was sie bei sich hatten, passte in zwei große Stofftaschen. Ihr Startkapital war ein Notizbuch mit Kochrezepten und ein Zettel mit den Adressen einiger Chinesen, die schon eine Weile in Deutschland lebten. Gleich nach der Ankunft bezogen sie eine Dachkammer und fingen an zu arbeiten - als Küchenhilfen in einem China-Restaurant.
Und daran hat sich im Prinzip bis heute wenig geändert, wenn man davon absieht, dass sie ein eigenes Restaurant haben, das für seine authentischen Gerichte bekannt ist, und dass sie nicht mehr zur Untermiete in einer Dachkammer sondern in einer geräumigen Wohnung leben, die ihnen gehört. Herr Hu steht in der Küche, wo er fünf Köche kommandiert, Frau Hu nimmt die Bestellungen der Gäste entgegen.
Die Hus haben zwei Kinder, eine Tochter und einen Sohn, die beide Chemie studieren. "Wir haben lange überlegt, auf welche Uni wir sie schicken sollen", sagt Frau Hu, "schließlich haben wir uns für Aachen entschieden, für Chemie gibt es nichts Besseres." Daheim bei den Hus wird Chinesisch gesprochen, sie haben viele chinesische Stammkunden, und die meisten Freunde, mit denen sie privat verkehren, sind auch Chinesen.
Die Hus leben in einer "Parallelgesellschaft", nur wissen sie es nicht, weil sie noch nie jemand danach gefragt hat, ob sie sich integriert fühlen. "Es geht uns gut", sagt Frau Hu, "wir haben uns eingelebt".
Swetlana, 1964 in Kiew geboren, kam 1992 nach Deutschland, mit ihrer drei Jahre alten Tochter Marina auf dem Arm. Ihre Eltern zogen zwei Jahre später nach, beide "nicht fromm, aber Juden", zu Hause wurde Russisch und Jiddisch gesprochen. Swetlana lernte "vom ersten Tag" an Deutsch, besuchte eine Fachhochschule, wo sie Design studierte. Das Diplom machte sie mit der Note 1 und fand danach gleich einen Job im Bereich "Corporate Design" bei einer großen Agentur. Tochter Marina, inzwischen 22, studiert an der London School of Economics, Swetlanas Eltern, beide 71, "arbeiten Tag und Nacht und haben nur Umgang mit sich selbst", der Vater hat in der Sowjetunion Maschinenbau gelernt, die Mutter Wirtschaftslehre.
Auch Swetlana lebt zum Teil in einer Parallelgesellschaft, in der russisch gesprochen, gegessen und gefeiert wird. Aber weder möchte sie zurück nach Kiew, noch meidet sie den Umgang mit "den Deutschen". Im Gegenteil, zum Tag der deutschen Einheit hat sie für die Kunsthalle Schirn in Frankfurt ein Projekt gestaltet ("Stand der Dinge"), an dem sich viele Frankfurter Bürger beteiligten, indem sie zum "Frankfurtdankfest" Gaben brachten, mit denen das Stadtwappen "gefüllt" wurde.
Diktaturen kennen keine Parallelgesellschaften
Die Hus und Swetlana sind einander nie begegnet. Sie wissen nichts voneinander, leben sozusagen in parallelen Welten. Dennoch haben sie etwas gemeinsam: Sie sind nicht Gegenstand öffentlichen Interesses. Es gibt keine "Chinesen-Konferenz" beim Bundesinnenminister und keine speziellen Integrationsprogramme für Juden, die vor 20 Jahren aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland gekommen sind. Niemand will wissen, welcher Religion die Hus angehören und in welcher Sprache Swetlana betet, falls sie es überhaupt tut. Es genügt, dass sie die geltenden Gesetze respektieren, bei Rot an der Ampel halten und einen Beitrag zum Bruttosozialprodukt leisten. Alles Übrige ist Privatsache und geht niemanden etwas an.
Warum also hat der Begriff "Parallelgesellschaft" einen so schlechten Klang? Warum will man "Bürger mit Migrationshintergrund" nötigen, in der Mehrheitsgesellschaft aufzugehen, wenn sie lieber unter Ihresgleichen bleiben möchten?
Nur primitive Gesellschaften, die weder eine horizontale noch eine vertikale Differenzierung zulassen und Diktaturen, die alle Lebensbereiche kontrollieren, kennen keine Parallelgesellschaften. Weder im Dritten Reich noch in der DDR gab es Parallelgesellschaften, wenn man von den Enklaven absieht, in denen "innerer Widerstand" oder Freikörperkultur praktiziert wurden. Überall dort, wo Gesellschaften nicht auf der Stelle treten, sondern beweglich sind, kommt es zwangsläufig zur Entstehung von Parallelgesellschaften.
"China Town" und "Little Italy" in New York sind die bekanntesten Beispiele, aber nicht die einzigen. Auf der East Side von Manhattan gab es das Yorkville, rund um die 86. Straße, die "German Broadway" genannt wurde; in den Washington Heights, am nördlichen Ende von Manhattan, lebten um 1900 vor allem Einwanderer aus Irland, in den dreißiger und vierziger Jahren waren es deutsche Juden, in den fünfziger und sechziger Jahren Griechen. Eine Parallelgesellschaft löste die andere ab. Heute prägen Einwanderer aus der Karibik das Straßenbild in den Washington Heights. Morgen könnten es Inder sein. "Little Odessa" auf Coney Island ist dagegen seit langem fest in russischer Hand. Und in Greenpoint in Brooklyn kommt man ohne polnische Sprachkenntnisse nicht weit. Eine Fahrt mit der U-Bahn durch New York ist eine Reise von einer Parallelgesellschaft zur anderen.
Geborgenheit und Überschaubarkeit
In Israel, wo fast jeder Einwohner einen Migrationshintergrund hat, gab es bis in die neunziger Jahre mindestens ein Dutzend deutsche "Landsmannschaften". Die rheinischen Juden feierten den Karneval, die bayerischen das Oktoberfest, die Königsberger den Geburtstag von Immanuel Kant. Die K.-u.-k.-Juden aus Österreich, Ungarn und der Bukowina pflegten ihr eigenes Kulturleben, das taten auch die "Polen", die "Rumänen", die "Litauer". Heute stellen die "Russen" die größte Parallelgesellschaft, mit eigenen Zeitungen, Radiostationen und Clubs. Allein in der Altstadt von Jerusalem koexistieren vier Parallelgesellschaften: eine griechisch-orthodoxe, eine moslemische, eine jüdische und eine armenische. Und dann gibt es noch die Samaritaner bei Nablus, die "Schwarzen Juden" bei Dimona, die Bahai in Haifa, die "Jews for Jesus" und die allerletzten Linken, die sich jeden Freitagnachmittag im Cafe Tamar in der Sheinkin-Straße in Tel Aviv treffen. Lauter Parallelgesellschaften, die wie Papierschiffchen in einem Teich schwimmen, ohne sich zu berühren.
Nur in Deutschland tut man sich mit der Erkenntnis schwer, dass Parallelgesellschaften unvermeidlich, vielleicht sogar gut und nützlich sind. Sie geben ihren Angehörigen das Gefühl der Geborgenheit, der Überschaubarkeit, die ihnen große Einheiten nicht bieten können. Davon abgesehen: Parallelen treffen sich im Unendlichen, dort wo die Differenzen gegen Null tendieren.
Auch wir Deutschen haben gerne unsere deutschen Siedlungen im Ausland, halten an deutschen Werten, Traditionen und Kulturen fest. Man betrachte nur einmal El Arenal (Ballermann) in Spanien, wo man nur deutsches Bier bekommt, deutsche Speisen usw. Dort spricht man deutsch, hat auch deutsche Straßennamen uvm. Das Gleiche findet man selbst auf dem afrikanischen Kontinent, nämlich in Namibia. Dort gibt es vollständig deutsche Stadtteile in der Stadt Windhoek mit deutschen Straßennamen, deutschen Geschäften, deutschen Schulen uvm. Und auch dort sind deutsche Einwohner gerne unter sich und sprechen ausschließlich deutsch.
Und ja, selbst in der Türkei hat sich die Tourismusbranche auf deutsche Urlauber eingestellt. Die angestellten der Hotels sprechen dort deutsch, schenken deutsches Bier aus und bieten deutsches Essen an.
Sollten wir angesichts solcher Fakten nicht etwas nachsichtiger mit den Migranten in Deutschland sein?
Bitte schreibt nieder, was Ihr dazu denkt.