Ich halte die Kolportage mit den hüpfenden Büchern für mittelalterliches Erzählgut, das mit der eigentlichen Kanonisierung der Heiligen Schriften recht wenig zu tun hat. Es gibt sehr wohl eine theologische, intellektuell redliche Begründung dafür, dass die Petrus-Apokalypse oder das Marienevangelium nicht in den Kanon des NT aufgenommen wurden. Sie sind schlichtweg mit magischen und gnostischen, der Gnadenlehre des Christentums sehr entgegengesetzten Gedanken durchsetzt und entbehren der ethisch-moralischen Qualität der kanonischen Schriften. Ähnliches gilt für die Schriften des AT. Jeder, der die kanonischen Schriften mit anderen, apokryphen Werken einfach vom Tonfall her, vom Aufbau her, von der inneren Kohärenz her vergleicht, kann es wahrnehmen. Das wurde nicht einfach von irgendeinem geheimnisvollen Gremium beschlossen, sondern bildete sich als allgemein anerkannter Kanon der göttlich inspirierten Schriften heraus. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Hohelied Salomos, das mit seinen sinnlichen und hochgradig erotischen Versen sowohl den alten Rabbinern als auch den prüden Kirchenvätern nachweislich eine Menge Schwierigkeiten bereitete. Es gab tatsächlich den Versuch, es aus dem Kanon zu entfernen, doch dieser Versuch scheiterte schlichtweg an der (auch theologisch-mystischen) Qualität des Werks, an seiner inneren Authentizität und seiner Kontinuität mit den übrigen Schriften. Da haben nicht irgendwelche Obermuftis willkürlich beschlossen, was sie nun als Gottes Wort verkaufen wollen. Wenn man das denkt, verkennt man zutiefst, was das für Menschen waren, wie sie mehrheitlich gedacht und empfunden und vor allem geglaubt haben. Das alles war für diese Leute völlig real, es erfüllte ihr ganzes Dasein, ihr Herz und ihr Seelenheil hingen daran.
Es wird zu oft zu schnell von vermeintlich totalen Widersprüchen in der Bibel geredet, das ist fast schon eine Art Allerweltsspruch, der kaum je Beweise vorlegen muss, weil man sich vielleicht zu sehr in der Rolle des aufgeklärten Neuzeitlers gefällt. Und wenn Beweise vorgelegt werden, erweist es sich bei näherer Betrachtung sehr oft so, dass man diesen tiefsinnigen und reflektierten Texten nicht etwa beim Schwindeln auf die Spur gekommen ist, sondern theologische Spannungsbögen offengelegt hat, in denen es einfach "um die Wurst geht", also konfliktive moralische Probleme, an deren Verarbeitung es auch in modernen Zeiten hapert. Man könnte der Bibel etwa vorwerfen, dass sie manchmal teleologisch und deterministisch ist, manchmal wiederum geradezu voluntaristisch. Was man ihr dann aber vorwirft, ist m.E. ihr eigentlicher Vorzug. Die Frage der menschlichen Willensfreiheit ist eben nicht mit einer dogmatischen Setzung zu lösen, sondern muss immerfort neu verhandelt werden, und genau dies wird (freilich menschlich-unvollkommen) im Dialog zwischen den verschiedenen Büchern aus sehr verschiedenen Zeitaltern der Bibel geleistet, die stets konsekutiv aufeinander Bezug nehmen, auch einander kritisieren, ergänzen, manchmal fast bekämpfen.
Ich habe den Eindruck, dass man selber zum Opfer seines Zeitalters wird, wenn man allzusehr darauf abhebt, diese Texte mit wissender Miene zum Priestertrug und zum Ammenmärchen zu erklären - die Verfasser der kanonischen Schriften waren keine Betrüger, höchstens Verblendete, das spricht beredt aus jeder ihrer Zeilen, selbst aus denen, wo man sie bei Fehlern "ertappt". Ich glaube nicht, dass die Fragen, die sich diese zweifellos antiken und tiefreligiösen Menschen vorlegten, so obsolet sind, wie es manchmal dargestellt wird. Im NT geht es etwa die ganze Zeit u.A. um die Frage, ob man seinem Gewissen (Gott) oder dem Staat, dem Kollektiv, der Familie gehorchen soll. Das ist eine verdammt gute Frage. Und die Apokryphen entbehren allesamt eindeutig dieser Schärfe, es ist eigentlich unüberlesbar.