Zahn um Zahn
In meiner Familie war die Demenz für die Betroffenen keine schlimme Sache. Für die Angehörigen eher, die mehr darunter litten. Es kommt ja auf die Blickrichtung oft an.
Z.B. Onkel Heini, seiner Zeit Zahnarzt, der nie geklebt hatte und bis ins hohe Alter den Bohrer schwang, schwingen musste. Liesschen, seine Frau mit überstarken Übergewicht, Wasser in den Beinen, bewegte sich zum Schluss als Zahnarzthelferin nur noch im Drehstuhl. Und beide bewegten gern ihre Hände & Hälse zur Kornflasche. Ihre Praxis war gleichzeitig ihre Wohnung und so konnten sie das eine mit dem anderen verbinden. Wenn ein Patient unwissend bei ihnen klingelte, das Praxis-Schild unten an der Tür als Wegweiser für kompetente ärztliche Hilfe deutete, so hatte das immer katastrophale Auswirkungen auf das Gemüt. Als Kind (zu Besuch) fand ich den Ablauf höchst amüsant, der fast immer der Gleiche war. Wenn es klingelte holte ich meine Stoppuhr raus und machte innerlich Wetten, wie lange es diesmal dauern würde, bis der neue Patient schreiend das Weite suchen würde..
Liesschen schaffte es noch einigermaßen klar den Neuankömmling vom Drehstuhl aus die Formalitäten abzufragen und ihn in den leeren Warteraum zu schicken. Diesen Moment fand ich spannend. Ein Ahnungsloser, der sich eine alte Bunte aus den 50iger arglos griff, darin blätterte und dachte, seine Schmerzen hätten bald ein Ende.. In der Zwischenzeit ging es für Liesschen darum Onkel Heini, der sich torkelnd, hicksend am Zahnarztstuhl aus der Jahrhundertwende festhaltend im Nebenraum wartend, die notwendigen Instruktionen zu geben, die ihn wenigstens für den ersten Moment im weiß-gelben Kittel einigermaßen seriös wirken ließen. Seine Zielsicherheit war nicht mehr die Beste und seine Bohrerkünste beschränkten sich darauf bei einmal geöffneten Mund alles anzubohren, was nach Zahn oder nicht Zahn aussah..
Was dann folgte war klar. Stets fiel mir der Tarzan Schrei von Johnny Weissmüller ein, der in diesen familiären Sequenzen noch durch ahnungslose Patienten getoppt wurde. Wenn sie schreiend davon liefen, mussten sie mitunter mein Kinderlachen aus dem Wohnzimmer raus gehört haben. Nachträglich schon gruselig.
Als Liesschen starb kam Onkel Heini ins Pflegeheim und gab dort richtig Gas. Sein Verstand war weggenebelt, aber körperlich war er noch richtig fit. Er lief lachend mit seinem Krankenhemd, das ja hinten stets offen ist, durch den Flur, erschreckte dort die Besucher, bastelte vergnügt aus seinem Kot Ostereier, die er verschenkte, griff den Krankenschwestern herzhaft an den Po, die alle für ihn Liesschen waren. Und wenn er mal in seinem Doppel-Zimmer lag, Besuch von uns bekam, sagte er beiläufig: "Neben mir liegt ja Yuppi (sein längst verstorbener Bruder).. Der nennt sich jetzt Herr Schrader"
Was ich damit sagen will. Mit dem Alter schlingert man in eine andere Bewusstseins-Ebene, die sich oft rückwärts entwickelt und für einen selbst nicht zwingend dramatisch ist. Man sollte sich nicht so viel um ungelegte Eier Gedanken machen. Es wird so wie es sein wird und ist so wie es ist.. Kacke wird das Ende ja eh..