Ich zeige euch mal eine Geschichte, die viel mit dem Ausprobieren und vor allem mit der Neugier zu tun hat. Ich habe sie vor Jahren geschrieben und in der Gruppe >Kurzgeschichten< gepostet.
Vom Jungen, der wissen wollte, wo die Welt aufhört
Rainer stand am Fenster seines kleinen Zimmers und sah auf die Straße hinunter. Er wohnte nämlich mit seiner Mutter im zweiten Stock eines Hauses, das genau an einer T-Kreuzung stand. Von hier aus konnte er die schnurgerade Hauptstraße bis zum Horizont verfolgen. Er liebte den Blick auf die belebte Kreuzung mit den Menschen, die in die Geschäfte gingen und mit vollen Taschen wieder rauskamen; mit den Kindern, die er alle kannte und schon aus der Entfernung an ihrem Gang erkennen konnte.
Manchmal kam es vor, daß Gerrit, der Gemüsehändler, vor seinem Laden stand und ihn am Fenster stehen sah. Dann winkte Gerrit immer zu ihm herauf und lachte über das ganze Gesicht. Gerade hatte Rainer seinen Freund Felix entdeckt, der mit seinem Vater ins Auto stieg. Er wusste, daß die beiden jetzt zu Felix’ Opa aufs Land fahren und ein Wochenende lang tolle Sachen machen; Drachen steigen lassen, im See schwimmen und das Floß zu Ende bauen. Felix hatte es ihm gestern im Hort erzählt und gefragt, ob er mitkommen wolle. Rainer wäre gerne mitgekommen, und das hätte auch fast geklappt; aber er musste zu Hause bleiben, weil seine Tante zu Besuch kommen wollte. Und weil die so selten zu Besuch kam, durfte er nicht mit.
Er sah dem Auto nach, wie es die lange Hauptstraße entlang fuhr und immer kleiner wurde. Als es nur noch ein winziger, roter Punkt am Horizont war, fragte er sich, wie groß die Welt eigentlich ist. Also zog er sich seine Jacke an, sagte seiner Mama, daß er jetzt rausgeht auf die Straße und hörte sie noch sagen, er solle nicht so lange draußen bleiben.
Er kam bei Gerrit vorbei, der vor dem Laden Gemüse nachlegte.
„Na?“ grinste Gerrit, „wo geht’s denn hin heute?“
„Ich will sehen, wo die Welt aufhört“ sagte Rainer und stiefelte an Gerrit vorbei. Der sah ihm verwundert nach und kratzte sich am Kopf.
„Hey, Rainer!“ rief Mareike, die ihm mit ihrer Mutter entgegenkam. „Wolln wir heute in unserem Garten spielen?“
„Nein. Ich muss nachsehen, wo die Welt aufhört“, sagte Rainer und ging weiter. Mareike sah ihre Mutter an und sagte: „Die Welt ist aber doch riesig groß.“ „Er macht nur Witze“ sagte ihre Mama. „Der geht bestimmt nur zum Supermarkt.“
Als Rainer am Supermarkt vorbeikam, sah er die Kassiererin neben dem Eingang stehen und eine Zigarette rauchen.
„Hallo, Rainer! Na, willst wieder ein bisschen Taschengeld für Süßigkeiten ausgeben, was?“
„Heute nicht“ sagte er. „Heute will ich sehen, wo die Welt aufhört.“ Sie lachte laut auf und meinte: „Da wünsch ich dir aber ein paar gute Schuhe!“ Ohne noch etwas zu sagen ging er weiter, und die Kassiererin sah ihm etwas nachdenklich hinterher.
Kurz darauf kam er am Werkzeugladen vorbei. Rudolf, der alte Verkäufer, sah ihn vorbeigehen und kam aus dem Laden heraus.
„Hey, Rainer!“ rief er ihm hinterher. „Wo willst du denn hin?“
„Ich will sehen, wo die Welt aufhört“ sagte Rainer. Das hatte Rudolf aber nicht recht verstanden, und so sah er ihm kurz hinterher und dachte, er hätte irgendwas von Geld gesagt.
So kam es, daß der kleine Junge dort ankam, wo die Häuser aufhören und die Felder anfangen. Im letzten Haus der Straße wohnte eine alte Frau. Die sah durch ihr Küchenfenster den Jungen vorbeigehen und dachte sich nichts dabei. Rainer blieb kurz stehen, sah sich um und entschied, weiter geradeaus zu gehen.
Als er inmitten der Felder an einer Kreuzung stand und überlegte, ob er weiter geradeaus gehen sollte, hörte er die Stimme eines Mannes.
„Jetzt sag mir doch mal, kleiner Kerl, wo du hinwillst.“
Rainer drehte sich erschrocken um und sah den Mann im kleinen Wartehäuschen der Bushaltestelle sitzen. Der hatte einen Hut auf und ziemlich alte Sachen an. Er ging zu dem Häuschen rüber und sagte: „Ich will sehen, wo die Welt aufhört.“
Der Mann sah ihn an und lächelte leicht.
„Du willst also wissen, wo die Welt aufhört“ sagte er mit ruhiger, brummiger Stimme. „Wo hast du denn angefangen zu suchen? Du kommst doch aus der Stadt, oder?“
„Ja“ sagte Rainer. „Ich wohne in der Humboldtstraße Nummer 10.“
„Hmm … in der Humboldtstraße. Und du bist den ganzen Weg hierher gelaufen? Dir müssen doch die Füße wehtun. Wissen deine Eltern, daß du das Ende der Welt suchst?“
Rainer sah hinunter auf seine Schuhe. Er merkte, daß ihm seine Füße wirklich wehtaten. „Ja“ sagte er. „Tun weh.“
„Weißt du eigentlich, warum die Straße so heißt?“
„Die Humboldtstraße? Die heißt einfach so Humboldtstraße.“
„Da irrst du dich aber gewaltig, mein Lieber. Wie heißt du?“
„Ich heiße Rainer Bergmann. Und wie heißt du?“
„Gustav.“
„Und warum heißt meine Straße Humboldtstraße?“
„Die heißt so, weil es mal einen Mann gab, der Humboldt hieß. Alexander von Humboldt. Und dieser Alexander wollte als Junge auch wissen, wo die Welt aufhört.“
„Jaa?“ Rainers Gesicht hellte sich auf. „Hat der in unserer Straße gewohnt?“
„Nein, der hat da nicht gewohnt. Aber er ist sehr berühmt geworden, weil er in der ganzen Welt herumgereist ist und alles aufgeschrieben hat, was er gesehen hat. Und weil er so berühmt ist, gibt es in vielen Städten eine Straße, die Humboldtstraße heißt.“
„Und wo hat er das gesehen, wo die Welt aufhört?“
„Bei sich zu Hause hat er das gesehen.“
„Bei sich zu Hause?“
„Ja. Er war nämlich deshalb in ganzen Welt unterwegs, weil er als kleiner Junge wissen wollte, wo sie aufhört. Genau wie du. Und er als er dann ein Erwachsener war, ist er mit Pferdewagen und Schiff auf die große Reise gegangen …“
„Mit Pferdewagen? Warum ist er nicht mit dem Auto gefahren?“
„Ich glaube, er mochte Pferde lieber. Außerdem sieht man viel mehr von der Welt, wenn man nicht so schnell ist. Na, jedenfalls hat er überall, wo er war, Sachen gesammelt und mit dem Postschiff nach Hause geschickt. Und wenn er dann wieder zu Hause war, hat er sich gedacht: Jetzt war ich soo lange in der Welt unterwegs und meine Reise ist jetzt zu Ende, wo ich zu Hause bin. Also fing alles zu Hause an, als er losging und hörte zu Hause wieder auf, als er zurückkam.“
Rainer sah in die Richtung, aus der er gekommen war, und wurde sich bewusst, daß es noch ein langer Weg bis nach Hause sein würde. Er sah den Mann an und sagte: „Mir tun die Füße weh.“
„Ja“ sagte dieser und rückte seinen Hut zurecht. „Dem Alexander von Humboldt haben seine Füße sehr oft weh getan, das kannst du mir glauben. Was hältst du davon, wenn du mir die Humboldtstraße zeigst? Ich nehm dich dafür Huckepack.“ Rainer blickte dem Kerl ins Gesicht und war so erleichtert wie noch nie in seinem Leben. „Abgemacht“ sagte er grinsend. „Ich zeige dir dann auch den Gerrit und den Rudolf. Das sind meine Freunde.“ Kurz darauf sah man die beiden die staubige Landstraße Richtung Stadt gehen; der Kleine auf den Schultern des alten Mannes.