Die guten alten Zeiten
Hallo miteinander!
Mein Beitrag ist eher destruktive, ja, aber ich kann nicht anders. Dieses "die Werte verschwinden" nervt mich mittlerweile. Die Nachkriegsmoderne war aus heutiger Sicht was Werte angeht in vieler Hinsicht ein echter Scheißort, ein anderer Name ist nicht möglich.
Ich möchte das mal den von Bjutiful genannten Werten zeigen (und damit nicht speziell gegen Bjutiful, außer sie vertritt die von mir kritisierten Punkte, was ich mir aber nicht rausnehmen will zu behaupten):
*Sorge um Andere:
Die gute alte Zeit war geprägt von einem Machbarkeits- und Beherrschungswahn und durchsetzt von Zucht und Ordnung. Die Sorge um Andere war noch eher ein Überwachungssystem. "Ja beim Herrn Müller sind ja ziemlich ungeorndete Verhältnisse, ich mein seine Frau geht arbeiten, obwohl er so viel Stress hat, der Arme!"
"Ach die Anni, jetzt hat sie die Dosen vorm Haus, die alte Schachtel. 25 und noch nicht verheiratet!"
In den 50er und 60er Jahren war ein alternativer Lebensstil noch ein wirklicher Ausbruch, und in den 70ern war in katholischen Ländereien der Konformitätsdruck auch noch enorm. Da war ein uneheliches Kind noch eine Schande, die nur mit der schnellen Heirat getilgt werden konnte (da spreche ich aus eigener Erfahrung). Das Gleiche galt für den Kirchenbesuch, wo nach zweimaligem Fehlen sofort die sorgenvollen Nachbarn auftauchten, ob denn alles IN ORDNUNG sei daheim.
Alle die nicht zum System gehörten, wurden auch nicht mit Sorge bedacht und wer unangepasst oder Waise war verschwand schnell in einem unmenschlichen Heimsystem gegen das heutige Altersheime Wohlfühlzentren sind... und da haben wir noch gar nicht von der wirklich hemmungslosen, von keinerlei Umweltschutz bemäntelten Ausbeutung anderer Weltgegenden gesprochen.
Derrida spricht in seiner Ethik davon, dass es nicht darum gehen dürfte den Nächsten zu lieben, sondern den "Erstbesten". Alle die Geschichten meiner Großeltern drehten sich jedoch darum, wie nah einem der Nächste war... aber auch wie fern die Fremden. Da gibt es heute mehr Empathie für Menschen jenseits des Dorfs oder Viertels finde ich.
*Höflichkeit:
Vielleicht ist Freiburg anders? Ich bin viele Jahre Straßenbahn gefahren und die Fälle bei denen eine ältere Person keinen Platz bekam kann ich an einer Hand abzählen.
Das Türaufhalten ist aus der Mode gekommen, weil sich "die emanzipierte Frau von heute" ja lieber die Tür ins Gesicht knallen lässt - in der Interpretation erbitterter "Emanzengegner"
Was hat das mit Höflichkeit zu tun, wenn jemand nur Frauen die Tür aufhält. Feministinnen die ich kenne haben kein Problem mit einer offengehaltenen Tür und auch nicht mit einer die nicht aufgehalten wird. Sie haben ein Problem damit, wenn ein Typ sich darauf beschränkt Frauen im fickbaren Alter die Tür zu öffnen und sich nicht um die restlichen 80% der Bevölkerung schert. Ein höflicher Mensch hält nicht Frauen die Tür auf, sondern Menschen.
*Respekt:
Der Gentleman (also der Türenaufhalter, nicht der "gentle man") ist kein respektvoller Mensch. Ich weiß nicht, wie sich das so festsetzen kann? Der Gentleman agiert aus einer Macht- und Überlegenheitsposition heraus, die sich aus einer klassischen Rollenverteilung ergibt. Bjutiful umschreibt das euphemistisch mit männlichen und weiblichen Tugenden. Passenderweise (unbewusst oder bewusst?) beschreibt sie die weiblichen als "bedingt". Das ist insofern richtig, weil in der damaligen Gesellschaft die Männer die Macht, das Geld und die Kontrolle in der Öffentlichkeit hatten. Die Gesten hin zur Weiblichkeit waren damit ein Ausdruck und Bestätigung dieser Vormachtstellung.
Der Mann lässt die Frau vor. Nicht die Frau geht vor. Der Mann überlässt ihr den Vortritt.
(Der Ursprung des "ladies first" liegt übrigens in der Burgbelagerung. Dort hat man die Frauen zuerst durch einen engen Durchgang durchgelassen, falls dahinter ein Feind stand. Denn eine tote Frau war besser als ein toter Kämpfer.)
All die Gesten eines Gentleman entspringen der eigenen Übermacht. Eva Illouz hat sehr schön beschrieben, wie das Bezahlen bei romantischen Treffen Ansprüche generiert. Noch heute fühlen sich viele Frauen unter dem Druck dem zahlenden Mann danach etwas bieten zu müssen. Der Bezahlvorgang des Mannes ist für viele ein Verlust an Freiheit und kein Gewinn (durch das gesparte Geld = mehr Geld für sich = mehr Möglichkeiten).
Wahre Höflichkeit ist Türaufhalten und in den Mantel helfen abgesehen vom Geschlecht. Ich habe schon erlebt, dass ein Mann einer jungen Frau mit ihren Taschen hilft, während sich der alte Mann daneben abmüht. Ist das Höflichkeit? Ist das eine moderne Sicht auf die Frau und auf den Mann? Oder sind das gar keine Tugenden, sondern stülpe ich jemanden ein total veraltetes Konzept über wie Männer und wie Frauen zu sein haben?
Ich wünsche mir auch Höflichkeit, aber keine die auf eine Hierarchie aufbaut oder auf ein Rollenklischee.
• Toleranz:
Toleranz ist nicht mehr als Duldung!
Die Toleranz ist ein zweischneidiges Schwert, weil es nur Duldung ist. Goethe hat zum Beispiel gesagt, das Toleranz auf Dauer eine Beleidigung ist. Toleranz ist einerseits gut, weil es gewaltfreies Zusammenleben befördert. Sie ist andererseits schlecht, weil sie nicht mehr als ein Nebeneinander ist und keine Gemeinsamkeit spenden kann. Die tolerante Haltung ist daher schlecht, wenn Leute sich darin einrichten und nicht zur Anerkennung des Anderen kommen.
Rauchen/Nichtrauchen: Schlechtes Beispiel, weil der Gestank der Raucher ein Übergriff ist. Beide sind nicht auf dem selben Level, weil der eine dem Anderen die Luft verpestet. Das heißt, der Raucher kann den Nichtraucher tolerieren und verliert dabei nichts. Der Nichtraucher der den Raucher toleriert verliert alles. Leider sehen es Raucher nicht so. Ich habe schon Raucher gesehen die ihren Rauch zu den Tischnachbarn ziehen lassen, während sie sich über den Lärm beklagen, der zu ihnen rüberschallt...
Die Debatte ist eigentlich nur deshalb ein Problem, weil viele Raucher denken die rauchfreie Atemluft anderer sei nichts wert. Würden sie nämlich das Recht auf unverrauchte Luft der Anderen respektieren, gäb es nie ein Problem.
Intimrasur ist ein gutes Beispiel.
Religion/Atheismus ist nur dann ein gutes Beispiel, wenn wir in einem säkularen Staat leben würden. Auch hier gibt es wieder ein Hierarchieproblem. Solange z.B. Kirchenfürsten in Gremien wie dem Ethikrat sitzen und dort ihre Meinung zu gewichtigen Themen angehört wird, die dann wieder mein Leben in Gesetzesform verändern, fehlt die Gegenseitigkeit der Toleranz. Jemand, der in dein Leben hineinagitiert, ist nur schwer tolerierbar. Schließlich geht "tolerare" von ertragen, erdulden aus, was eine gewisse niedrigere Konfrontationsschwelle impliziert. Ich toleriere den Lärm der Nachbarskinder, aber nicht wenn sie auf meine Terasse kommen und mir ins Ohr brüllen. Dann ists vorbei mit der Toleranz und ich muss entweder dagegen vorgehen oder ich spiele mit.
Zur Toleranz in der "früheren Zeit":
Das ganze 20.Jahrhundert bis in die 80er war in Deutschland eine Zeit der Intoleranz. Will jemand von euch eine Frau in den 50ern oder 60ern sein? Ich glaube die Intoleranz einer Rollenabweichung würde uns alle schockieren. Hat jemand den Wunsch damals homosexuell zu sein, oder gar trans- oder intersexuell? Ein Neger vielleicht? oder ein Hausmann? Schon mal versucht in den 80er Jahren deinen gewaltätigen Mann anzuzeigen? Wie war das mit psychisch Kranken in der Zeit? Der Rat für schwer traumatisierte Ex-Soldaten war: Reiss dich zusammen!
Kindesmissbrauch? Gabs nicht! Hatte es nicht zu geben! Heute wissen wir, dass es viel mehr davon gab als heute, weil es eine falsch verstandene Toleranz gegenüber den Täter_innen gab, gepaart mit Scham und einer ebenso falschen Vorstellung von Respekt (wenn es z.B. um Würdenträger ging oder die Hoheit des Vaters über die Familie).
Ich glaube in vielen Bereich ist die heutige Gesellschaft viel offener, toleranter und vorurteilsärmer. Dafür ist sie an vielen richtigen Stellen (Gewalt gegen Kinder, Ehefrauen, Schutzbefohlenen) weniger tolerant und in manchen auf dem guten Weg (Gewalt gegen Ehemänner z.B.).
Das Thema "Werte" ist an sich interessant, doch ich hoffe, dass dieser Verweis auf dieses Amorphe "früher" verschwindet.