Ich nenne mich einen Anarchisten.
Ich bin in gesellschaftliche und politische Strukturen hinein geboren, die ich damals weder kannte, noch mitbestimmen durfte.
Um mich herum sehe ich Menschen, die genau wie ich in dieses Modell hinein geboren wurden. Der Umstand ist für mich von Bedeutung, da kaum einer, den ich kenne, das Gesellschaftsmodell aktiv erschaffen hat. Leider hat sich bis heute, bei aller Kritik an diesem Modell, noch keine Mehrheit gefunden, es abzuschaffen oder radikal zu Modifizieren.
So lange sich nicht genügend Leute dafür finden, in solchen Belangen zu kooperieren, muss ich mit dem Herrschaftssystem leben.
Geradezu paradox wäre es, machte ich nun die Herrschenden oder deren Herrscherwillen dafür verantwortlich, dass das System im Prinzip immer noch so funktioniert, wie wir es seit tausenden von Jahren kennen.
Nicht der Herrscher ist für den Zustand verantwortlich, sondern die Beherrschten.
Gut, ein paar Errungenschaften haben wir erreichen können, die Ablösung des Feudalsystems, die nominelle Gleichberechtigung vieler Menschen und zumindest ein zaghafter Versuch in Sachen Demokratie. Der bisher zurückgelegte Weg stimmt mich zuversichtlich.
Denke ich den demokratischen Gedanken zu Ende, dann lande ich bei einem System, in dem das Individuum oben steht. Hier ist der einzelne Mensch das höchste Gut, ist sein eigener Entscheidungsträger, keinem anderen verpflichtet außer seinem eigenen Gewissen. Ein jeder ist sich selbst der Wichtigste und steht an höchster Stufe eines nun wirklich demokratischen Systems. Alles andere ordnet sich ihm unter.
Könnte man Volksherrschaft nennen. Das würde allerdings die Tatsache verkennen, dass es ja gar kein Gefolge mehr gibt.
Wie ein solches System funktioniert, will ich hier nicht weiter ausbreiten. Eine solche wirkliche Demokratie wäre nichts anderes als Anarchie.
Da Gute an einem solchen System ist, dass wir es nicht mit Revolution oder Umstürzen erreichen müssen, sondern es durch eine sukzessive Machtverlagerung innerhalb des bestehenden Systems schaffen können.
Es war weiter oben von der Verantwortung die Rede, die ein jeder tragen müsse und dass nicht jeder dazu bereit sei. Ich glaube, das Tragen von Verantwortung will gelernt sein. Grundvoraussetzung dafür ist aber, dass es Verantwortung zu tragen gibt. Wie wir den Jugendlichen in der Pubertät Verantwortung übergeben, auf dass sie selbständig werden, so werden wir es nicht lernen, wenn man uns keine überträgt.
Erste Schritte sind mehr Entscheidungsmöglichkeiten für das Volk, Volksentscheide, Bürgerbegehren, direkte bzw. "liqiuide" Demokratie etc.
Gaanz langsam geht der Zug schon in diese Richtung. Ich weiß zumindest, wie die politische Landschaft noch vor 20 Jahren in Bezug auf diese Themen aussah. Das gibt Anlass zu Hoffnung.
Anarchie zu leben, gibt mir ungeheuer viel. Anarchie leben, heißt für mich in erster Linie, mich als obersten Entscheidungsträger auf einer Ebene mit meinen Mitmenschen zu sehen. Als Entscheidungsträger bin ich selber verantwortlich. Selbst für das bestehende Herrschaftssystem. Auch wenn ich noch nicht genügend Leute finde, die mit mir in der Sache kooperieren und das System verändern, trage ich meine Verantwortung für die Existenz des Systems, ob ich es mag oder nicht.
Wer, wenn nicht ich, natürlich gemeinsam mit kooperierenden Menschen, kann am System etwas ändern? Die, die tief drinnen stecken, werden es am allerwenigsten tun.
Klingt vielleicht krass, aber die anarchistische Sichtweise lässt mich z.B. Politiker oder die Polizei als meine Angestellten sehen. Ich verhalte mich tatsächlich anders, wenn ich in eine Kontrolle gerate. Schließlich bezahle ich sie dafür, dass sie mich kontrollieren. Und das versuche ich dann auch, ihnen zu vermitteln. Ich trage die Verantwortung für das, was sie tun, solange ich es nicht ändern kann.
Ich verhalte mich anders in Gesprächen, z.B., wenn es um "die da oben" geht. Ich sage: ich bin oben, wir alle sind oben. "Die da unten" haben wir gewählt, uns zu vertreten. Die Kanzlerin ist ganz unten an der Spitze und entspräche die Hierarchie innerhalb der Demokratie nicht noch der der Kaiser- und Königreiche, dann hätte sie gar nichts zu sagen, wäre überflüssig.
Ich verhalte mich anders, wenn die Leute von Basisdemokratie, Demokratie von unten oder Graswurzelrevolution sprechen. Ich sage: was für ein Quatsch. In der Demokratie ist das Volk oben. Seht euch da, dann steht ihr auch da. Ist zumindest der erste Schritt.