Lebensregeln
Hallo Missy,
grundsätzlich halte ich es für gefährlich in komplexe Sachverhalte einfache Pflöcke reinzuhauen. Wir sehen ja gerade in der Politik wohin das führt wenn die Sehnsucht nach einfachen Antworten zu groß wird. Da Du "Krise" recht offen gelassen hast, ist meine Antwort allgemein. Genaueres gern per PN, schreib mir einfach, wenn du magst.
Ich würde nicht nach Lebensregeln suchen, sondern eher Rahmen für dein Leben definieren innerhalb derer das Leben dann in all seiner Komplexität und Unberechenbarkeit stattfinden kann. Entgegen einem Vorredner halte ich da die Philosophie ganz und gar nicht für fehl am Platze, sondern in ihrem eigenen Terrain befragt.
Ein Teil der Philosophie fragt nach dem "guten Leben" und hat sehr viele gut durchdachte Antworten hervorgebracht. Ich hatte ja irgendwie erwartet, dass Epikurier56 uns Epikur dazu vorstellt
jetzt mache ichs:
Epikur und seine Anhänger haben auf deine Frage die Antwort gegeben, dass der Mensch ein Mängelwesen ist. Wir haben Bedürfnisse, die unser Dasein schmälern, Durst, Hunger und ich würde auch sagen sozialen Kontakt, Sicherheit, Anerkennug etc.
Ein gelungenes Leben besteht nicht darin ein paar Hochgefühle zu suchen, die immer flüchtig sein müssen und schon gar nicht der unmenschliche Anspruch ständig im Hochgefühl zu leben. Ein gelungenes Leben ist die Abwesenheit von den oben genannten Unbillen. Das Ziel ist also mehr Zufriedenheit als Glück. Das scheint deswegen weise, weil unser Glücksempfinden meist der Abstand zwischen dem ist, was wir haben und dem was wir glauben zu verdienen.
Mit Epikur wäre eine Lösung deiner Krise zu definieren an was es dir im Leben mangelt, unrealistische Ansprüche (ich will dauernd verliebt sein und Mr.Perfect haben und einen Job der Spaß macht, Sinn und gutes Geld gibt.. und jeden Tag was tolles machen und alle müssen mich mögen etc.) von realistischen trennen und auf ein Abstellen der Mängel hinarbeiten. Das ist natürlich ständige Arbeit, da die Mängel immer wieder auftreten, doch Leben ist eben "Werden" und nicht "Sein". Das mir sympathischste an dem Ansatz in der Praxis war das Gesellige. Denn sobald Du merkst, dass Du ein Wesen bist, dass Andere um sich braucht, wirst du sie dir suchen. Denn ihre Abwesenheit wäre ein eklatanter Mangel. Damit steht der Ansatz direkt gegen den heutigen ICH-Trend, der sich, in anderer Form für mich auch in der Stoa oder in Meditationslösungen findet.
Ganz anders würde man rangehen, wenn Du dich mit Adorno frägst: "Gibt es ein gutes Leben im Schlechten". Hier würdest du zuerst einmal in den Mittelpunkt stellen, das die Gesellschaft und die Welt nicht rund läuft. Es gibt Unmengen an Leid, kapitalistische Ausbeutung fast überall auf dem Planeten, Fremdenangst bis Fremdenfeindlichkeit, Menschen die meist ihre Moral danach richten ob sie das Gegenüber mögen oder nicht, Schicksalsschläge wie Krankheiten etc.
Die Frage ist, ob und wenn ja wie du in einem solchen System, dass auch nicht immer die Netten, Moralischen etc. unterstützt, dennoch ein gutes Leben führen kannst. Meiner Meinung nach führt hierbei der Weg über die persönliche Integrität. Du kannst viele Faktoren nicht kontrollieren, daher kannst du das Gefühl der Ohnmacht für weite Teile der Welt nur dadurch begrenzen, indem du deinen Wirkungsbereich erkennst und dich darauf konzentrierst. Durch deine sozialen Kontakte (Arendt würde vom Beziehungsgeflecht sprechen) ist dies oft weiter als man denkt. Zum Beispiel fällen wir täglich Konsumentscheidungen, die nachhaltig und fair sein können oder (positiv gesagt) gleichgültig bezüglich der Produktionsbedingungen für Andere.
Du hast Einfluss auf Dein Leben und kannst dafür ethische und moralische Werte definieren und diese dann einhalten. Das macht die Welt nicht gut, doch Du kannst für dich einen Raum schaffen in dem Du Deinen Werten folgst und damit nicht Teil einer der Maschinerien bist, die derzeit die Welt verheeren. Diese Werte sind dann auch der oben angesprochene Rahmen, weil sie nicht wie eine Regel dein Verhalten in einer Situation vorgeben, sondern dir helfen verschiedene Situationen zu bewerten, sie zu Rahmen.
Als drittes und vorläufig letzten Ansatz, die sich ja alle nicht widersprechen, möchte ich die Anerkennungstheorie anführen. Sie sagt, dass wir nicht in der Lage sind unser Glück alleine zu finden. Wir sind durch Sprache, Gewohnheiten, Lebensentwürfe, durch unser Menschsein so eng mit unserer Umfeld verflochten, dass wir ohne den Bezug darauf uns nicht entfalten können. Oftmals wird im heutigen Diskurs vom ICH oder von Authentizität gesprochen, was ich beides für Illusionen halte. Gerade im Austausch mit anderen Kulturen merken wir, wie viele Werte, Vorstellungen und Verhaltensweisen wir internalisiert haben. D.h. wir denken es käme aus uns, das wären wir selbst, und dann merken wir, dass wir mehr unsere Kultur darstellen, als uns als einzelne Person. Ich stelle mal die These auf, dass niemand von uns seine eigene Sprache erfunden hat und dann komplett darauf basierend seine Werte ableitet.
Vielmehr sind wir arg geprägt von unserer Historie, von Werten, die uns bereits als Kindern vermittelt wurden, die in unserer Gesellschaft verwurzelt sind. Wir können manche Dinge überhaupt nicht mehr so empfinden wie Menschen vor 200, ja manchmal auch nur 100 oder 50 Jahren.
Was heißt das für die Krise? Es heißt, dass praktisch alle Krisen auch Krisen für das Umfeld sind und nur darin und damit gelöst werden können. Das siehst du ganz deutlich bei Alkoholikern oder anderen Krankheiten, wo mittlerweile von Ko-Abhängigkeit gesprochen wird. Doch auch viele andere Lebenskrisen entstehen, weil wir in Konflikt mit Werten kommen, die in unserem Umfeld verankert sind (philosophisch gesehen, können auch deine Gefühle dein Umfeld sein, wenn du Werte verinnerlicht hast und es sich jetzt anfühlt, als kämen sie ureigen aus dir selbst).
Der erste Schritt in diesem Fall wäre es zu überprüfen wer in deinem Umfeld in deiner Krise eine Hilfe ist und wer Teil des Problems? Wer stellt realistische Ansprüche an dich und wer solche, die du nicht erfüllen kannst bzw. willst? Wer würde einen Rollenwechsel heraus aus der Krise unterstützen und wer projieziert Rollenbilder auf dich, die dich eher an einer Lösung hindern? Man sollte nicht unterschätzen wie sehr die Umgebung sich mit einer Krise einrichtet und einen z.B. als schwarzes Schaaf der Familie einsetzt und sich regelrecht dagegen wehrt einen aus der Rolle zu entlassen. (z.B. in dem gute Taten nicht geglaubt werden oder es mit "wirst schon sehen morgen enttäuscht er uns wieder" abgetan wird).
Natürlich lässt sich das verbinden und in "Regeln" fassen:
1) Nicht das Glück anstreben, sondern Zufriedenheit = Abwesenheit von Mangel anstreben und nicht Überfluss. Überfluss ist kurzfristiges, nicht aufrecht zu erhaltenes Glück, das nicht als Lebensziel taugt.
2) Die eigene Integrität in einer unethischen Welt finden und den eigenen Wirkungradius nicht überdehnen. Gleichzeitig die eigene Wirkung nicht unterschätzen und sich der zahlreichen Entscheidungen bewusst sein, die wir dauernd treffen und diese ethisch und moralisch fällen.
3) Sich bewusst machen, welche Erwartungen aus dem Umfeld auf einen einprasseln und die guten von den schlechten unterscheiden. Herausfinden welche Menschen einen bei der Transformation aus der Krise unterstützen und welche (bewusst oder unbewusst) dem Entgegenstehen. Sich verdeutlichen welche Werte und Ansprüche du übernommen hast und dir überlegen welche du weiterhin für dich behalten willst.
4) Nicht das Glück anstreben, sondern Sinn und aus einem sinnvollen Leben dann das Glück schöpfen. Wenn du zu dem Schluss kommst, dass die Welt im Großen und Ganzen nicht gut läuft, dann ist Glück als Fröhlichkeit nur zu dem Preis zu haben das Leid zu verdrängen und sich nicht daran zu stören, dass wir hier in Deutschland auf Kosten anderer Weltteile leben. Nachhaltiger empfinde ich es einen sinnvollen Beitrag zur Welt zu leisten und daraus Glück zu schöpfen. Z.B. indem ich eine Stunde in diesen Beitrag stecke.
5) Niemals eine 5. Regel aufstellen, nur weil der andere 5 Regeln wollte!
gruß
Brynjar
PS: kannst mich gern auch anschreiben bei Fragen. Ich selbst kann als Normal-Mann-Nutzer niemanden anschreiben der nicht meine Freundin ist.