Das natürlichste Loslassen: das Einschlafen.
Wir sind existenziell auf den Schlaf angewiesen, evolutionär aufs Sicherste darauf eingetunet, biologisch gar ausgeliefert - und können uns dennoch so schwer damit tun, als gelte es, einen leibhaftigen Widersacher zu bezwingen.
Zwang ist Nichtlassen; Zwanghaftigkeit das besonders darin Geübtsein. Zwänge werden eingeübt durch Wiederholung des Haltens.
Loslassen ist, bei zuhandener psychophysicher Gesundheit, auf nur wenige Vorgänge beschränkt, die eher Bedürfnischarakter haben oder sonst vegetativ sind und somit evolutionär gar hinter den Verhaltensprogrammen rangieren.
Loslassen ist uns, will ich sagen, zwar angeboren, aber mit unsichtbarer Tinte auf unserer spiraligen DNS-To-Do-Liste eingetragen. Müssen wir erst lesen lernen.
Die Wachsamkeit zieht sich auch durch die Ideengeschichte. Ghilgamesch verschläft das Erfassen der Lebenspflanze und biblisch-apostolisches Verschlafen ist auch das Übermanntwerden von seiner Menschlichkeit angesichts der Einladung zur Transzendenz. Der Schlaf hat seine eigene Repräsentanz auf der Landkarte der Archetypen, und in seinem hauptaktiven Traumgyrus windet sich das Mysterium der Transzendenz von allein auf.
Nur leider kaum beobachtet.
Im Traum lernen wir uns von der Seite kennen, die wir traumwandlerisch als unsere Innerste anerkennen könnten, wüssten wir sicher, dass induzierte Halluzinationen nicht noch unvermittelter sind. Was kaum anzunehmen ist.
(...)
Luzides Träumen wird in den alten Kulturen als Seelensegel gehandelt, und wirkt ähnlich wie Alice´s Wachstums- und Schrumpfungshäppchen. Mitten im losen Knüpfen wird ein importierter Bildknoten gesetzt.
Ich ließ meinen Engel lange nicht los,
und er verarmte mir in den Armen
und wurde klein, und ich wurde groß:
und auf einmal war ich das Erbarmen,
und er eine zitternde Bitte bloß.
...
Rainer Maria Rilke, 22.2.1898, Berlin-Wilmersdorf
(Cioccolata, Seite 1)
An diesem Fragment kann ich mich gar nicht sattlesen. Ganz gleich, wie und als was der "Engel" imaginiert wird - dass er verarmt, wird er nicht losgelassen, versteht man sofort. Wortlos, denn dazu, warum, sagt Rilke ja nichts.
Und dass ich groß werde, wenn ich halte, und klein, wenn ich gehalten werde - denn dies macht die Essenz der lyrischen Aussage aus - ist ebenso bar jeglicher Infragestellung mit in die Zeilen gewoben.
Der dramatische Höhepunkt, den die Sprache auch mit dem "und auf einmal" einleitet, ist die Einsicht, es zu weit mit dem Halten getrieben zu haben. Werden Erbarmen und Bitten zum Kommunikationsmotiv, ist eine Ebene erreicht, auf der - im Gedicht - die Befreiung mit einem "Da hab ich ihm ..." initialisiert wird. Ein jeder, der dies liest, kann auf noch kaum reflektierter Weise dazu nicken.
Dabei ist es keine Selbstverständlichkeit, wenn auch Essenz unserer ethischen und religiösen Verbindlichkeitspostulate, dass Erbarmen und Bitten Befreiung und Frieden einleiten.
Da hab ich ihm seine Himmel gegeben, -
und er ließ mir das Nahe, daraus er entschwand;
er lernte das Schweben, ich lernte das Leben,
und wir haben langsam einander erkannt...
(RMR)
Hier schleicht sich mitunter ein Unterton mit ins Lesen, der Himmel und Nahes und Schweben und Leben als Gegensatzpaare erlaubt zu verstehen. Erlaubt. Ob Schweben sich zum Leben so verhält, wie das Nahe zum Himmel ... ein Nebenschauplatz der Interpretation. Gewichtig ist, dass die Pole Räume erschaffen, erlauben - Räume, in denen wir voneinander lernen und einander erkennen können - das Hier und das Dort erlernen, und uns darin als Sowohl als Auch.
Zwischen Ich-Hier und Du-Dort ist das sicherste Boot jenes der Liebe. Sicherheit bespricht eine Bewegung, Geborgenheit einen Stand, so sehe ich das.
Liebend kann ich Du sein, und Du kannst ich sein - aber nur, wenn wir die Standorte unterscheiden lernten, können wir sie zum Einschmelzen bringen.
Wenn einer, der den Himmel "sein" nennt, erst durch Losgelassenwerden aus dem Nahen/ dem Leben das Schweben erlernt - wie es das Sonett berichtet - heißt es, wir erkennen uns selbst erst darin, dass wir uns wie ein Ziel bereisen, das wir noch gar nicht kennen. Das uns aber jener weisen kann, mit dem wir die DU-Ich-Landkarte zeichneten.