Allerdings bin ich im Gegensatz zu Dir sehr wohl der Meinung, dass der Ursprung des Benennens auf unmittelbaren Erfahrungen beruht.
(Mazita)
Ich bin gar nicht anderer Meinung, und wenn ich Anlass zu dieser Überzeugung gab, werde ich das hier korrigieren.
Wir haben vor und an der Schwelle zur Menschwerdung unter den Bedingungen der Unmittelbarkeit gelebt. Wir waren integraler Bestandteil und Spielball dieser Bedingungen. Das heißt, daß wir uns nicht von ihnen entfernen konnten, um sie aus einer Distanz zu betrachten. >Betrachten< wäre nämlich bereits eine Fähigkeit, die nur aus einer Distanz heraus möglich ist.
Diese Distanz haben wir irgendwann zum ersten Mal eingenommen. Wir sind einen Schritt aus der uns bedingenden Welt herausgeschritten, um sie zu imaginieren und aus dieser Imagination etwas zu konstruieren. Diese ersten Konstruktionen kennen wir als Höhlenmalereien oder kleine Plastiken aus Elfenbein, Holz, Knochen oder Stein. Es sind die frühesten Artefakte, und sie zeugen von den ersten Schritten heraus aus dem an sich bedeutungslosen Fluss des Erlebens hinein ein eine Welt der Theorie.
Ich stelle mir diesen Übergang etwa so vor: Wir hatten aufgrund von zufällig aufgetretenen, günstigen Mutationen einige Vorteile erlangt. Ein Vorteil war die Fähigkeit zur (Weiter-)Entwicklung von einfachsten Werkzeugen, die zu besserer Jagd und zu mehr Fleischnahrung führte. Diese gesteigerte Nahrungszufuhr führte zu einem Wachstum des Gehirns, das wiederum mit seiner wachsenden Komplexität sukzessive in die Lage gebracht wurde, mehr zu leisten als bisher.
Dieses gesteigerte Potenzial hat zu der Fähigkeit geführt, sich zu wundern. Man wunderte sich, daß alles so geschieht, und damit wurde der Fluss der Dinge zu einem Wunder. Es stellte sich als Wunder heraus, daß die Sonne, der Mond und die Sterne, der Berg, der Fluss und die Herde ewig sind, während man selbst das Zeitliche segnen muss. Somit beugte man sich unter diese Wunder, weil man ihnen ausgeliefert war. Die ewigen Dinge wurden zu Göttern, weil man sie nicht beeinflussen kann wie das Elfenbein, das Holz, die Knochen und die Steine.
Wenn die Mutter den Hunger des Kindes und die Herde den Hunger des Clans stillt, dann ist beides ein Geschenk. Bei der Mutter war es einsichtig, denn das Kind ist hilflos und die Mutter hat die Milch. Bei der Herde ist es nicht einsichtig, denn wer sorgt dafür, daß die Herde immer wieder vorbeizieht? Wer schickt uns die Herde? Wer schickt uns die wärmende Sonne? Wer hat entschieden, daß ich sterben muss?
Diese letzte Frage stellte sich als die eigentliche heraus. Die Sicherheit über die eigene Sterblichkeit wurde zum Antrieb für alles Weitere. Vilém Flusser spricht von der >Einsamkeit zum Tod<, und es ist diese Einsamkeit, die uns zu all dem befähigte, was wir als Spezies in die Welt setzten und weiterhin setzen werden.
Was wir seither wollen und tun, ist, Information zu erzeugen, die uns überdauert. Diese Information ist unsere eigene, und je länger wir uns damit befassten, desto weniger steht sie mit der Welt in Verbindung, aus der wir uns einst mit den ersten Artefakten zu verabschieden begannen.
Heute gibt es für uns keinen Weg mehr, diese Unmittelbarkeit zu erfahren, weil wir als Baby bereits in eine Welt geworfen werden, die restlos aus erfundenen Bedeutungen besteht. Beispiele sind die blauen und rosafarbenen Outfits für Babys als Etikett für das natürliche Geschlecht und die unterschiedliche Bewertung von männlicher und weiblicher Arbeit.
>Etikett< ist überhaupt ein Signet unseres mit Bedeutungen überladenen Lebens. Wir etikettieren alles, und dieses Thema betreffend muss man davon ausgehen, daß wir eventuell etwas loslassen wollen, dessen Etikett uns nicht mehr gut tut oder gefällt.
Wir hantieren mit Zeichen, die sich von den Phänomenen der tatsächlichen Welt dadurch unterscheiden, daß sie ihr nicht angehören. Wir dürfen also nur hoffen, daß wir uns mit unseren Konstruktionen der tatsächlichen Welt so weit nähern, daß der Unterschied zwischen ihren Phänomenen und unseren Zeichen für sie nicht allzu groß ausfällt, auf daß wir einigermaßen sicher sein können, ein einigermaßen erträgliches Leben führen zu können.
Mich interessiert nicht das Sein. Mich interessiert das Dasein.