Könnte es moralische Gene geben?
Es gibt Patienten mit einer Schädigung des "ventromedialen präfrontalen Cortex". Das ist ein Bereich des Gehirns der ganz vorne direkt an der Stirn über dem Nasenbein liegt. Nur bis ca. 1 cm dick und relativ neu in der Entwicklungsgeschichte des Gehirns.
Der bekannteste Patient war ein Mann namens
Phineas Gage, der in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts lebte. Bei einem Unfall ist so etwas wie eine Eisenstange
durch seinen vorderen Gehirnteil gedrungen. Er hat das überlebt ohne irgendwelche intellektuellen Einbussen. Allerdings wurde er in seinem Handel "unmoralisch", also wich plötzlich emotional stark von den moralischen Standards der damaligen Zeit ab.
Seitdem hat sich viel getan und viele Patienten mit entsprechenden Hirnschädigungen wurden beobachtet und untersucht. Dabei wurde festgestellt, dass dieser Cortex eine wichtige Funktion bei der Anwendung von Moralvorstellungen hat. Es existiert allerdings kein „moralisches Zentrum“ im Gehirn.
Moralische Entscheidungen entstehen vielmehr aus einem komplexen Wechselspiel von Emotionen und Gedanken. Für die moralischen Emotionen gilt, dass sie auf verschiedene Gehirnregionen angewiesen sind.
Da ist z.B. die sensomotorische Region. Eine Schädigung dieses Teils der Großhirnrinde führt zur Anosognosie, einer Störung, bei der die Patienten ihre eigene Krankheit nicht erkennen.
Die Patienten haben z.B. eine Lähmung und sind dennoch überzeugt, dass ihr Körper normal funktioniere. Fordert man sie auf, den gelähmten Körperteil zu bewegen, so erklären sie, dass sie keine Lust dazu hätten oder leugnen gar, dass der Körperteil zu ihrem Körper gehöre.
Ausserdem leiden sie auch unter Verlusten ihrer emotionalen Fähigkeiten. Selbst schwerste Schicksalsschläge berühren sie nicht stark.
Eine weitere wichtige Region ist der Mandelkern (oder Amygdala), der nicht zur Großhirnrinde, sondern zum tieferen (subcortikalen) Bereich des Gehirns gehört. Der Mandelkern ist eine Ansammlung von Neuronen. Auch Schädigungen dieses Bereichs führen zum Verlust von emotionalen Fähigkeiten.
Neuroethisch können derartige Ergebnisse auf verschiedene Weisen reflektiert werden. Zum einen muss die Frage nach der moralischen und juristischen Schuldfähigkeit von solchen Menschen gestellt werden. Bedeutet die anatomisch bedingte Unfähigkeit zu moralischen Gedanken und Emotionen, dass man auch nach der Ausführung von Verbrechen die entsprechende Person als Patienten und nicht als Täter behandeln muss?
Müsste man Menschen wie Phineas Gage nach einer Straftat nicht in eine Klinik statt in ein Gefängnis schicken? Wenn man diese Fragen bejaht, so muss man sich allerdings festlegen, ab welchem Störungsausmaß eine entsprechende Einschränkung der Schuldfähigkeit vorgenommen werden sollte. Schließlich zeigen viele Gewaltverbrecher neurophysiologisch auffindbare Gehirnanomalien. Diese könnten womöglich als Folge wiederholter unethischer Gedanken und Emotionen entstanden sein.
Aus neurowissenschaftlichen Studien können sich jedoch auch Erkenntnisse über die allgemeinen Mechanismen moralischen Urteilens ergeben.
Zur Zeit wird versucht mit neuropsychologischen Daten zu belegen, dass moralische Emotionen keine notwendige Bedingung für moralische Urteile sind. Dabei stützt man sich auf Patienten mit einer Schädigung des ventromedialen präfrontalen Cortex – also der Schädigung, die auch Phineas Gage hatte.
Diesen Menschen fehlen zwar die moralischen Emotionen, und sie handeln im Alltag auch oft grausam, dennoch entsprechen ihre Urteile über moralische Fragen weitgehend denen gesunder Menschen.
Es wird argumentiert, dass man die Urteile von derartigen Patienten letztlich nur als ursprünglich moralische Urteile verstehen könne, und bezeichnet ihre Position als einen moralphilosophischen Kognitivismus:
Zwar mögen im Alltag moralische Emotionen das moralische Urteilen stark beeinflussen, allerdings seien sie keine notwendige Voraussetzung.
Für mich bedeutet das, der Mensch hat immer die Wahl bei moralischen Entscheidungen, aber er hat auch eine "organische" evtl. "genetische" Prädestinierung.
(Ru)dolf