Nach der Lektüre einiger Hundert Vegetarier-Websites möchte Bodo Michael Baumunk nur noch eines: Suprême de poulet de Bresse farci à la julienne de légumes sauce au Gamay du Bugey
von Michael Baumunk
"Die Herkunft des deutschen Geistes - aus betrübten Eingeweiden" Friedrich Nietzsche
Wenn 70 Menschen an einer Lebensmittelvergiftung erkranken, ist dies kein Grund zur Schadenfreude - allerdings auch kaum eine Sensation. Wenn es sich, wie im Juli geschehen, um Teilnehmer des 7. Europäischen Vegetarierkongresses handelt, in dessen Tagungsbeiträgen vermutlich "gesunde Ernährung" in jedem dritten Satz auftauchte, lohnt sich indes das genaue Hinsehen, was den Teilnehmern den Appetit verschlagen hat.
"Was der Koch eigentlich hätte wissen sollen", berichtet AP, "rohe Bohnenkerne, vor allem rote und schwarze, aber auch grüne, weisen den giftigen Inhaltsstoff Phasin auf, der erst beim Kochen zerstört wird. Er kann beim Menschen Übelkeit und Schwindel auslösen sowie Erbrechen, kolikartige Durchfälle, Kreislaufkollapse und Herzprobleme. Bei den Opfern handelte es sich um strenge Vegetarier, selbst die Milch war durch Sojamilch ersetzt." Schmerzlich, so darf man folgern, mußten die ernährungsbewußten Kongreßteilnehmer eine Erfahrung machen, die bereits ihren prähistorischen, an giftigen Waldbeeren naschenden und dabei womöglich vom Säbelzahntiger überraschten Vorfahren geläufig war: Gerade die natürlichste Natur birgt die meisten Gefahren.
Versuchen Sie mal, Ende der neunziger Jahre zwanzig Leute zum Diner zu bitten. Die Hälfte hat Allergien gegen irgendwas, die nächsten essen keine Innereien, die anderen keinen Fisch, die mitgeführten Kinder mögen überhaupt nichts. Und ein paar Vegetarier sind immer dabei. Ein paar? Vor wenigen Jahren noch waren sie umhegte, willkommene Exoten, denen Fürsorge und Erfindungsreichtum des Koches zuteil wurden.
Ratlosigkeit breitet sich indes aus, wenn selbst Ricotta-gefüllte Maultaschen und Omelettes auf die langzähnige Ablehnung jener wachsenden Zahl von Totalverweigerern trifft, die überhaupt keine tierischen Produkte, also weder Milch noch Käse, noch Eier zu sich nehmen. Von den Anstrengungen, Kreuzberger Alternativ-Köter auf vegetarisches Chappi umzuerziehen, hat man gehört, was aber spendet die veganische Still-Mutter ihrem zeternden Säugling? Muttermilch kann es nicht sein, denn die enthält alles, was der "ernährungswissenschaftlich" munitionierte Vegetarier verabscheut: viel Zucker, viel Fett und alles noch mensch-tierischer Herkunft.
Kein Fleisch zu essen ist jedermanns Privatangelegenheit. Sollte man meinen und respektieren. Wäre Jedermann nicht in zunehmendem Maße Vegetarier. Die Flutkatastrophen, mit denen die ideologischen Grundströme in diesem Jahrhundert die Politik heimgesucht haben, sind gebannt, um so heftiger hat das Alltagsleben als benachbartes Überlaufgebiet unter dem offenbar ungebrochenen Furor vieler Leute zu leiden, die weder Kleidung noch Fortbewegung, nicht Wohnen noch Ernährung, nicht die Erziehung der Kinder noch das Zusammenleben der Geschlechter von ihren strengen Sittengesetzen unbehelligt lassen wollen.
An der T?te marschieren die Vegetarier. Sie machen mittlerweile heftige Ausfallschritte, zum Beispiel die Berlin-Brandenburgische Vegetarier-Initiative, wie sich die Spielverderber-Truppe nannte, die vor ein paar Monaten den Kunden des Berliner Winterfeldt-Marktes auflauerte. Fleischesser sind aggressiv - sagt die Vegetarier-Propaganda. Vegetarier kennzeichnet ihre mümmelnde Moral, sagt die eigene Wahrnehmung. Längst hat der Vegetarismus seine traditionellen Nischen verlassen und Heimstatt in den letzten Lückenbereichen eines geschlossen fortschrittlichen Weltbildes gefunden. Wer überzeugt ist, daß Intelligenz nicht vererbbar ist, die Nato aufgelöst gehört, Vätern kein Sorgerecht für ihre Kinder zusteht, Saddam Hussein ein Antiimperialist ist und es sich bei der "Gleichstellungsbeauftragten" sowie dem "Referat für gleichgeschlechtliche Lebensfragen" um arbeitende Behörden handelt, wer die Selbstmorde von Stammheim bezweifelt, aber an die Existenz von Elektro-Smog glaubt, wird es sich beim "Bleiberecht für alle"-Fest mit hoher Wahrscheinlichkeit auch in der veganischen Volxküche schmecken lassen.
Vegetarismus in unseren Breiten scheint - wie der Tierschutz, der interessanterweise auch im menschenmassenmörderischen Dritten Reich gesetzgeberische Aufmerksamkeit gefunden hat - vor allem eine nordeuropäische Angelegenheit zu sein. Oder hat schon einmal jemand von einem italienischen Vegetarier gehört? Dort, wo die späten Nebel drehn, in der Trübsal des Flachland-Dreiecks zwischen Flandern, Südschweden und Ostpolen mit der norddeutschen Tiefebene in der Mitten, wo der Gottlose zum Sprit und der Spirituelle nach dem Gottesreich greift und noch jeder religiöse Wahn Europas seinen Ausgangspunkt genommen hat, dort hat auch der Vegetarismus als weltanschauliches Programm seinen Ursprung.
Freilich, halb aus touristischen, halb aus missionarischen Gründen, wird der Vegetarier mittlerweile für die Verkündigung seiner Frohbotschaft sprachlich aufgerüstet: Die Internationale Vegetarier-Union stellt ihren Anhängern die wichtigsten Redewendungen, mit denen er sich durch die fleischlose Welt bewegt, in mehreren Dutzend Sprachen zur Verfügung, von Armenisch bis Suaheli. Io amo gli animali, percio' non li mangio ("Ich liebe Tiere - also esse ich sie nicht!") wird der Vegoteutone dem verdutzten italienischen Oberkellner entgegenschleudern, der ihm mit bistecca fiorentina unter die Augen zu treten wagt. Mam rada zvirata ("Ich mag Tiere gern") bekommt die böhmische Wirtin zu hören, die dem Gast sodann vermutlich ratlos ihren Wellensittich vorzeigen wird, nachdem sie mit ihrem Schweinsbraten wieder abziehen mußte. Auf das gesittungsstolze Ez dut esernik edaten ("Ich trinke keine Milch") darf der Baske die hochmütige Verweigerin für den unerlösten Fall eines Kindheitstraumas halten ("Nein, meine Suppe eß' ich nicht"), wenn nicht gar ihr dunkles Geraune für das Codewort einer Eta-Kurierin - ein Verschwisterungsverdacht für lebensreformerische und politische Fanatismen ist nie verkehrt.
Wird der Ostfriese im heimischen Idiom mit der bangen Frage Wilket Eten kann ik hier eten? konfrontiert, wird ihm, wenn sein Sauerfleisch mit Flaschbier zurückgewiesen wird, nur der Verweis auf den nahrhaften Grasbewuchs der nahen Deichwiesen einfallen. Übrigens handelt es sich um "eine offiziell anerkannte Minderheitensprache", und in einem einfachen Satz mit dem Tierschutz gleich noch den Minderheitenschutz aufs Panier schreiben zu können, dürfte den Gipfelpunkt sprachlicher Korrektheitsverdichtung darstellen - mit dem einfachen "Herr Ober, die Speisekarte bitte" wäre das nicht zu haben.
Warum aber findet sich der Satz "Ich esse nichts, das mit tierischem Fett zubereitet wurde" (Eu n‹o como nada preparado com gordura animal, bacon ou banha) nur auf portugiesisch? Ein brasilianischer Kollege weiß Rat: In seiner Heimat bekommen vegetarische Touristen, in Rio auf der Suche nach lateinischer Vitalität unterwegs, ihren Grünkram mit Speck vorgesetzt - das sei doch kein Fleisch, versucht sich mancher dortige Gastronom in Unkenntnis der kristallinen Prinzipientreue ideologischer NordmännInnen herauszureden. Leider, mag sich die naturbelassene Studienrätin aus Osterholz-Scharmbeck mit mißtrauischem Seitenblick auf ihren in dieser Hinsicht noch ungefestigten Gatten sagen, läßt sich der wogende Inhalt der Karnevalskostüme noch nicht durch Tofu ersetzen.
Allen Minderheiten, ob bedroht oder nicht, ist ein Portefeuille berühmter Persönlichkeiten, die ihr angehörten, zur Hand - als könnte man zum Beispiel nicht frohen Herzens schwul sein, ohne vorher die Sixtinische Kapelle ausgemalt zu haben. Die Vegetarier-Liste ist natürlich beeindruckend: Albert Schweitzer! Franz Kafka! Gandhi! George Bernard Shaw! Tolstoi! Albert Einstein! Überflüssig zu erwähnen, daß es sich um Leute handelt, die den Vegetarier-Anspruch generell größerer Friedfertigkeit bestätigen. Aber fehlt da nicht noch jemand? Jesus Christus ist leider nicht zu haben: Wer den Verzehr seines eigen Leib und Blut zum religiösen Gemeinschaftserlebnis macht, scheidet als Schutzpatron der Pflanzenkost aus. Adolf Hitler hingegen vermehrt noch jedes Namedropping der International Vegetarian Union: Wie alle Ideologen sehen sich auch Vegetarier zum beherzten Umschreiben der Geschichte genötigt, wo sie ihnen nicht ins Konzept paßt. Regelrechte historische Gutachten folgen, die dem Diktator heimlichen Weißwurstgenuß nachzuweisen trachten, obwohl sein vegetarischer Tick vom Kammerdiener bis zu den hungrig gebliebenen Tischgenossen seiner Tafelrunden dutzendfach belegt ist.
Ein Anonymus läßt die vegetarische Weltgemeinde über das World Wide Web ernsthaft wissen, die Sache mit Hitlers Vegetarismus sei eine Erfindung von Goebbels, der ihn dem "heiligen Mann Gandhi" ähnlich habe machen wollen.
Hitler nach dem Vorbild Gandhis - wo der pure Schwachsinn offenbar ein Geschichtsbild bestimmt, wollen wir einen quellenkundlichen Geheimtip nicht unterschlagen: Der "Führer" hat höchstpersönlich ein ernährungswissenschaftliches Kochbuch ("Mein Mampf") geschrieben, für seine Volksküchen, die damals "Winterhilfe" hießen und Erbsensuppe auftischten. Und Einstein? Das "brillante Fachgehirn", über dessen "Schwäche für Verallgemeinerungen" in allen übrigen Fragen Bertolt Brecht im amerikanischen Exil hinreichenden Anlaß zur Verwunderung hatte, bleibt auch als besonders dankbarer Spender von wohlklingenden Gemeinplätzen in Erinnerung - "Soldaten sind Mörder" ist das von Zitat-Marodeuren besonders hemmungslos ausgebeutete: Einem GI, der auf dem Weg zur Befreiung Europas war, wird Einstein es kaum nachgerufen haben.
"Wer einmal diesen Weg eingeschlagen hat und an sich erlebt, wie der bewußte Verzicht zum vielfachen Gewinn wird, kann sich der Faszination der Ziel-Annäherung nicht länger entziehen. Er ist auf dem Weg zum Frieden mit der Kreatur, auf dem Weg der Mitgeschöpflichkeit, auf dem Weg der Ehrfurcht vor dem Leben." Tatsächlich leitet die zitierte Verheißung eines Internet-Vegetariers zum zentralen Heilsversprechen in der säkularen Religion des Vegetariers über, daß er schließlich nicht nur länger, sondern ewig lebt. In Gestalt des gemordeten Schlachttieres, den Opferstätten der Schlachthöfe, verbannt er die Vorstellung des Todes als solchem aus seinem Lebenshorizont und vollzieht damit nur, was in Gestalt anonymer Hospitalisierung mit menschlichem Leiden und Sterben bereits geschehen ist.
Die gesamte Kulturgeschichte des Menschen, die ohne Jagd, Viehzucht, Fleischgenuß, Pelz und Leder nicht gedacht sein kann, wird nebenbei einer radikalen Individualisierung der Ethik unterworfen und nihilisiert. Der Vegetarier ist Nietzscheaner, Orientierungspunkt seiner Religion ist nicht Gott, sondern das Leben selbst - und zwar das menschliche, also seins. Mögen ganze viehzüchtende und pelztierjagende Völkerschaften dahingehen, der Armut und dem Alkoholismus anheimfallen - für den Vegetarier ist jeder Tag Erntedank seines überlegenen Wertesystems. Zusammen mit seinen Parallelphänomenen, Bio-Kost, Körper- und Schönheitskult, erscheint der rasante Aufstieg des Vegetariertums zeitgeistiger, als es seinen Anhängern vermutlich lieb ist.
Die radikalste Spielart des Vegetarismus, der Veganer, sagt nun, nachdem er die Fleischereien im Bremer Ostertor-Viertel zertrümmert hat und überlegt, wie er die Bio-Joghurt-Gläser aus dem Ökoladen herauskriegt, ohne ihn zur Gänze niederzubrennen: Jede kommerzielle Nutzung von Tieren, Milchprodukte, Eier und Leder ist Ausbeutung und Diebstahl. All diese Verarbeitungsindustrien sind so eng miteinander verbunden, daß der Vegetarier, der Milch trinkt und Eier ißt, sich mitschuldig macht, weil er Handtaschenproduktion und Broilerkonsum indirekt mitfördert und überdies durch den puren Genuß tierischen Eiweißes nicht nur "unrein", sondern auch rückfallgefährdet ist. Hier haben wir nun die paßgenaue antikapitalistische Moral im Zeichen der Globalisierung: Der Abscheu des Vegetariers vor Blut und Verwesung ist nichts als das Symptom jener Entkörperlichung, wie sie zugleich die Verbreitung des Cybersex und der allgemeinen Dematerialisierung von Leben und Arbeit kennzeichnet - früher produzierte der Kapitalismus Verelendung, nun Verengelung.
Nichts ist charakteristischer dafür als die bange Frage, die uns Vegetarier "Stephan" im Internet stellt: "Hat irgend jemand schon davon gehört, ob vegetarische Ernährung zu körperlichem Geruch führt?" Aber nein, lieber Stephan, davon ist nichts bekannt, und die Ausdünstungen Tausender von Kuhställen sagen noch gar nichts. Schon ernsthafter müssen wir uns auseinandersetzen mit "Björns" Anfrage nach Bezugsquellen "lederfreier Schuhe, die auch einigermaßen stabil und atmungsaktiv sind. Na ja und gut aussehen sollten sie natürlich auch." Dich, Björn, müssen wir leider bescheiden: Wenn dir deine Besohlungsmoral wirklich wichtig ist, so widerstehe dem Versucher in dir und trage Gummistiefel, auch wenn du darin Schweißfüße kriegst und wie ein Vegetarier aussiehst.
Ein solcher legt Zeugnis ab vom Scheitel bis zur Spreizzehe. Heuchelei bezeichnet den Dunstkreis der gesamten Vegetarismus-Diskussion - bei Freund wie Feind des Fleischgenusses. Tolstoi übersah bekanntermaßen geflissentlich, daß seine vegetarischen Gerichte mit Fleischbrühe zubereitet wurden, und seine Bauern, die das ganze Jahr kein Fleisch auf dem Speisezettel fanden, ohne diesen erzwungenen Verzicht freilich mit frommer Askese begründen zu dürfen, sahen eine ähnlich närrische Marotte darin wie in des Grafen Anstrengung, stümperhaft seine Stiefel selbst - wahrscheinlich "atmungsaktiv" - zu schustern.
Arthur Schopenhauer, der sich unter den Philosophen seiner Zeit sicher am vehementesten zum Anwalt gegen die Tiermißhandlung gemacht hat, scheut vor der Empfehlung des Vegetarismus zurück - wenn auch mit halsbrecherischen Argumenten: Leiden wachse mit dem Bewußtsein und da der Mensch nun einmal mehr davon besitze als das Tier, sei für den Menschen der Verzicht auf Fleisch eine weniger zumutbare Pein als die des Tieres, in ebensolches verwandelt zu werden. Auch könne jedenfalls der Mensch des Nordens durch Entbehrung der tierischen Nahrung "nicht einmal bestehen".
Der Vegetarier, zum Beispiel in Gestalt jenes wie alle seine Gesinnungsgenossen verhärmt aussehenden Doktor Seltsam, der uns als Sekretär der Canarischen Vegetarischen Gesellschaft vorgestellt wird, bemüht eine ganze Parade angesehener Naturhistoriker und vergleichender Anatomen von John Ray bis zu Linné, Buffon, Cuvier, Owen, Huxley und Darwin zum Nachweis, daß Gebiß und Verdauungstrakt des Menschen ihn "eigentlich" als Vegetarier ausweisen. Welch logisches Dilemma: Vegetarier essen "natürlich" - aber die "Natur" ißt überall Fleisch. Die Abkehr vom Fleischgenuß ist die "Zivilisationsleistung", wie sie dem ethikbefähigten Menschen im Gegensatz zur leider genetisch nicht umfrisierbaren Hyäne frommt - aber wieso hat der "natürliche" Rohköstler Mensch dann im Laufe des Zivilisationsprozesses immer mehr Fleisch gegessen? Wieso ist in der gesamten Menschheitsgeschichte auch nicht eine einzige rein fleischlose Kultur nachweisbar?
Man bemerkt schnell, in welche Aporien der Vegetarier mit seinen naturrechtlichen Anstrengungen gerät, wo jede kritische Sichtung des Naturbegriffes mittlerweile das Gegensatzpaar Natur-Zivilisation als solches in Frage stellt: "Die Kultur ist die wahre Natur des Menschen (...), nicht Unnatur, nicht Gegennatur, sondern Eigennatur unserer Spezies", schreibt der Biologe Hubert Markl. Wenn sich der Vegetarier darin am Ende evolutionistisch besser behauptet, dann nur deswegen, weil die weltweite Fleischproduktion irgendwann an ihrer eigenen Expansion zugrundegeht, aber sicher nicht vermöge eines Willensaktes der Vegetarier und schon gar nicht ihres im Pleistozän ausgebildeten Gebisses.
Vegetarier leben länger - mag schon sein. Allerdings leben auch Frauen länger als Männer, ohne daß zumindest der aufgeklärte Feminismus Frau-Sein als solches zur überlegeneren Lebensform erklärt würde. Woher aber bezieht der Vegetarier seine Gewißheiten? Richtig: aus den Statistiken der "Ernährungswissenschaft". Hier allerdings haben wir es mit einem der eigenartigsten Phänomene des gegenwärtigen Wissenschaftsbetriebes zu tun. Eine respektable universitäre Disziplin mit Lehrstühlen, Assistenten, Instituten und wahrscheinlich auch Studenten, deren Forschungsergebnisse freilich mit der Parapsychologie um die kürzeste Halbwertzeit ihrer Gültigkeit wetteifern.
Die "Ernährungswissenschaft" erreicht den Zeitungsleser in merkwürdigen Zyklen. Solche Meldungen vermehren sich in den Monaten Juli und August. Das Ungeheuer von Loch Ness hat sich nicht blicken lassen, der revitalisierte Passagier-Zeppelin wird nicht wieder gebaut, um zwei Saure-Gurken-Klassiker zu zitieren, da füllen sich die Rubriken "Vermischtes" mit Nachrichten, die ungefähr so beginnen: "Zu häufiger Genuß von Hechtklößchen in Champagnerrahm kann nach Ansicht von amerikanischen Ernährungswissenschaftlern schwere Magenverstimmungen hervorrufen. Rattenversuche haben bewiesen usf. usf.", "Die Deutsche Vereinigung für Ballaststoffe sowie der Bundesverband für linksdrehende Buttermilch warnen nach diesen beunruhigenden Erkenntnissen usf. usf."
Die "ernährungswissenschaftliche" Fabulierkunst, die Dürftigkeit ihres gesicherten Wissens bei zugleich maximaler öffentlicher Resonanz ist kein Wunder: Ein Großteil der Forschungsprojekte in der sogenannten "Ernährungswissenschaft" sind Auftragsarbeiten rivalisierender Nahrungsmittelindustrien, die ihre Ergebnisse als Produktaufdruck dem gläubigen Publikum bis ins Supermarktregal aufdrängt. Gäbe der Vatikan ein wohldotiertes Gutachten in Auftrag, ob es, wie im Neuen Testament beschrieben, möglich sei, mit fünf Gerstenbroten und zwei Fischen fünftausend Menschen zu ernähren, fände sich todsicher ein Ernährungswissenschaftliches Institut, welches dies nicht nur als problemlos, sondern unter diätischen Gesichtspunkten als geradezu vorbildlich bewiese. Denn die "mediterrane Kost" mit ihrer angeblichen Fett- und Fleischarmut genießt schließlich bei "Ernährungswissenschaftlern" eine stereotype Hochschätzung, die vermutlich auf den Pizza-Service des Hochschul-Campus zurückgeht und in der Detailkenntnis auch nicht darüber hinaus.
Wie der "niedere Blutdruck", der international mittlerweile als "German Disease" verhöhnt wird, weil es sich dabei nicht um eine Krankheit, sondern um ein sozialstaatliches Pseudo-Leiden zur Erringung von Kuraufenthalten und Zusatz-Ferien handelt, wird man die "Deutsche Lipidliga" analog zur "Deutschen Schmerzgesellschaft" weniger als medizinisches denn als kulturelles Symptom unserer nationalen Disposition zu Wehwehchen und evangelikalem Reinheitsgebot werten dürfen. Trösten wir uns: Außer im Falle klassischer Mangelkrankheiten wie Skorbut und Pelagra, die in unseren Breiten nicht vorkommen, gibt es bis heute keine Erkenntnis über den Zusammenhang von Ernährung und Gesundheit, die so hieb- und stichfest wäre wie die über die Gefahren des Rauchens. Und die einzige Ernährungswissenschaft ist und bleibt die Kochkunst.
Wie sich der Bolschewismus nicht lange mit ein paar verbliebenen Monarchisten aufhielt, sondern seine Vernichtungsanstrengungen auf den konkurrierenden Sozialreformismus konzentrierte, so bekämpft der Tugend-Terror der Veganer-Tscheka nicht etwa den dekadenten Verzehr von foie gras und lebendpochierten Krebsen, Genüssen, die jenseits ihres Geschmackszellen- und Portemonnaievermögens liegen, auf unappetitlicher Tierquälerei beruhen und schweren Herzens gemieden werden sollten. Der eigentliche Feind sind die Alternativ-Schlachtereien, und man muß einräumen: Da haben die Vegetarier-Kampagnen leichtes Spiel. Unter dem Eindruck von BSE, den Greueln der Massentierhaltung und der enthemmten Verwendung von Medikamenten und Chemikalien sind Fleischereien und Lebensmittelindustrie in einen Erklärungsnotstand geraten, dessen schönfärberisches Bild vom eigenen Tun der Vegetarier-Liebesbotschaft in nichts nachsteht.
Bestes Beispiel sind die Informationsblättchen, die "Neuland"-Fleischereien für ihre gewissensgepeinigte Klientel bereithalten. Das Leben jenes Schweins, dessen zufriedenes Lächeln der Käufer noch im Kotelett auf dem Fleischertresen zu erkennen glaubt, scheint einem Rosamunde-Pilcher-Roman zu entstammen: Auf saftigen Wiesen großgezogen, mehr Auslauf als ein Großstadtkind, pestizidarm und garantiert vegetarisch ernährt, kann es den Tag kaum erwarten, an dem es mit erwartungsfrohem Grunzen dem abholenden, komfortabel ausgestatteten Viehkleintransporter entgegeneilt. Sein Ableben ist gleichsam der Kollateralschaden einer fröhlichen Kaffeefahrt ins Blaue. Man darf sich nichts vormachen: Die Schlachtung eines Schweins ist immer unangenehm, jedenfalls für das Schwein. Und ein "Deutscher Tierschutzpreis" für einen mustergültigen Schlachthof, wie unlängst zu lesen, ist blanker Zynismus.
Doch ist dies Weide-Land des Lächelns nur die Kehrseite jener glücklichen Kindergesichter, mit denen die vegetarische Erbauungsliteratur wirbt, und die vermutlich vor McDonald's-Filialen aufgenommen worden sind. Kinder bilden das gleichsam ikonische Moment der Vegetarier-Propaganda und den Kern ihrer Religion. Der kindliche Schock über das geschlachtete Lieblingskaninchen und die Henne, "der man jeden Tag die Eier stiehlt", ist der Schlüssel im Bekehrungsprozeß zum Vegetarismus. Daß dieses Schockerlebnis, besonders wenn es wie im Falle der BSE-Massenschlachtungen zu spektakulären Fernsehbildern verstärkt wird, eine Fleischverweigerung besonders bei Jugendlichen nach sich zieht, ist nichts Ungewöhnliches und normalerweise zeitlich begrenzt.
Pubertierende Mädchen, besonders dankbare Opfer der Vegetarier-Propaganda, erwählen bekanntlich auch ihr Pferd zum besten Freund in jenen Jahren, in denen sie nölend im Schlepptau ihrer entnervten Mütter auf dem Wochenmarkt unterwegs sind - "Wenn ich die Fleischberge hier sehe, krich ich echt die Krise" - "Nein, Liebling, ich verspreche dir, wir kaufen kein Fleisch". Nur - und auch hier erweist sich der Vegetarismus als zeitgemäß - daß die gesamtkulturell um sich greifende Infantilisierung nun auch die menschliche Ernährung mit der ethischen Verallgemeinerung kindlicher Unschuldsperpektive diktieren darf.
"Vielleicht wird man bereits in hundert Jahren mit ähnlichem Befremden auf Karnivoren zurückschauen, wie heute auf Kannibalen" - prophezeit der Schweizer Philosoph Jean-Claude Wolf, in seiner "Tierethik". Tatsächlich ist die Position des "Karnivoren" (Fleischfresser) bereits einem schleichenden Erosionsprozeß ausgesetzt, der demjenigen nicht unähnlich ist, dem sich die letzten Heiden der Spätantike ausgesetzt sahen. Während die "Ernährungswissenschaft" hinter ihren beeindruckenden chemischen Zahlenwerken von Fettwert und Brennwert sorgfältig verbirgt, wieviel sie in Wahrheit neben lebensreformerischem Hokuspokus mit paulinischer Lustfeindlichkeit zu tun hat, gerieren sich Vegetarier wie Märtyrer im Römischen Reich: als verfolgte Minderheit, die ihr Leiden an der Grausamkeit der Welt mit mildem Grienen erduldet, aber in der Hosentasche schon unruhig an der Streichholzschachtel für den Scheiterhaufen fingert - für den Fall, daß man bald Mehrheit ist.
Man lese die Schriften von Tertullianus, einem finsteren Ayatollah des Frühchristentums, der für dieses besorgte, was Vegetarier und ihresgleichen heute für die Glaubenskonformität jedes alltäglichen Lebensbereichs übernehmen - Heilsversprechen durch Verbote, damals des weiblichen Schmuckes, des Theaters, der männlichen Toga, der soldatischen Ehrenzeichen - und am Ende seines Werkes über die Zirkusspiele wahren SM-Delirien von in der Hölle schmorenden Heiden freien Lauf läßt. "Etwas Unerhörtes wäre Wollust ohne Gaumenlust; denn diese beiden sind so miteinander vereint und verwachsen, daß sie überhaupt nicht getrennt werden können", läßt uns Tertullian in seiner Schrift "Über das Fasten" wissen, und: "Ein abgemagerter Leib wird hoffentlich leichter durch die schmale Pforte des Heiles eingehen, schneller wird ein leichter Körper auferweckt werden".
Wie der Benediktiner-Möch, der nach solcher geistigen Speise sowie dem Genuß von Gänsebraten nebst einer Flasche Bordeaux möglicherweise schlecht geschlafen hat, sich nächsten Tages wieder guter Dinge zu Tisch setzte, langt auch der Autor, dem die Lektüre von einigen Hundert Vegetarier-Websites vorübergehend den Appetit auf Bresse-Hühnchen verschlagen hat, wieder tüchtig zu.
(aus : Wochenzeitung jungle World; Nr. 33 ; 18. August 1999 )
gruß