Ich zweifele nicht am Wunsch der Mehrheit, das Tierwohl zu verbessern (Wasch mir den Pelz), sehe aber, dass sie mehrheitlich noch immer KZ-Fleisch kaufen (mach mich nicht nass). Junge proeuropäische Menschen in England wurden im Brexit-Referendum überstimmt. Sobald mal jemand den Finger in die Wunde legt, Probleme schonungslos benennt und grundlegende Veränderungen skizziert (Verstaatlichung von Daseinsvorsorge, Reichensteuer, Tempolimit, Grundeinkommen) wird er polemisch diffamiert.
Ich sehe uns als noch spätkolonialistische Wirtschaftsnation an: Wir kaufen Bauxit unfair in Südamerika, bauen ernergiefressend daraus SUVs und verscheuern die diktatorischen Saudis. Aus den Erträgen dieser Industrien entlohnen wir eine breite Schicht von Arbeitnehmern, die mit ihren recht ordentlichen Gehältern noch genug für den Dienstleistungssektor übrig haben und zudem mit ihren Abgaben due Sozialsysteme finanzieren. Jeder radikale in dieses System setzt sich in einer Welle bis zum Bürger durch, gefährdet unsere dekadente Lebensweise und führt daher zu reflexartigen Abwehrreaktionen. Die spontane Sensibilität für Infraschall, sobald ein Windrand in der Nähe des eigenen Hauses gebaut werden soll, gehört auch zu diesen Reaktionen.
Ich zweifele nicht die Einsicht und den guten Willen vieler an, aber bin skeptisch bezüglich der Mehrheiten, sobald es ernst wird und echter Verzicht nötig wird. Mehrheiten stützen in Ungarn eine nationalistische Regierung, erlauben in Polen einer Regierung die Beschränkung als gesichert geglaubter Freiheiten, haben in Italien einen Salvini ermöglicht. Ich glaube, das Plebiszide nur funktionieren, wenn sie dem Plebs wenig zumuten. Ja, ich bin pessimistisch gegenüber vielen Menschen die trotz besseren Wissens für ihren kurzfristigen Vorteil radikalere Lösungen ablehnen. Der Schwarm ist, wie "der Markt", keineswegs immer klüger, nachhaltiger, gerechter.
Ja, unsere Politiker sind oft nicht das, was ich mir als Traumbesetzung vorstelle. Aber es gibt auch viele, die komplexe Probleme weniger spontan und wütend analysieren, als mancher Bürger.
Oskar Lafontaine sagte mal: "Wer dem Wähler immer nur hinterher läuft, sieht nur seinen Arsch." Ich wünsche mir mehr prinzipienfeste Politiker, als postenverliebte Parteigänger. Die ihr Amt nutzen, auch mal mutig unpopuläre, weil schmerzhafte Entscheidungen zu vertreten. Und riskieren, ggf. damit unterzugehen.
Ich bleibe die Antwort schuldig, wie die durch die Mühle der Nominierungsverfahren hindurch kommen. Wie zb ein Kühnert einen Spahn auf hintere Listenplätze drängen kann . Wie jemand das Bankensystem kritisieren darf, ohne sofort des Kommunismus verdächtigt zu werden. Wie man einer alten Frau erklärt, dass es auch nicht gerecht ist, wenn ein junger Krankenpfleger ihr eine Mutterrente finanzieren muss in einer Höhe, die er selbst als Rente nicht mehr erwarten darf. Wie man wohlhabende Bürger in Bayern übrzeugen könnte, ein atomares Endlager im Süden zu akzeptieren. Wie man ein Stahlwerk in Drutschland rettet, wenn der Strompreis fair berechnet würde.
Ich befürchte aber, das viele Volksbegehren mehr Wünsche formulieren, als Antworten zu deren Umsetzung mitliefern.