Guten Morgen !
Zumindest aus "Al Bundy" dürfte der Film "Magnolien aus Stahl" bekannt sein - vielleicht hat ihn auch die eine oder andere Frau mal gesehen ? Ich glaube, es ist die gealterte Shirley McLaine, die jene Melancholikerin darstellt, die ziemlich weit gegen Ende des Films so schön sagt: Nein, es geht Ihr nicht schlecht, nein, sie hat keine Probleme - sie ist einfach nur schlecht gelaunt, und das seit 35 (?) Jahren !
Melancholie passt einfach nicht in die Modernen und Postmodernen Ansprüche an den Menschen, dem beständig das Ideal des aufgeräumten, dauergrinsenden Sanguinikers, des "positiv" Denkenden vorgehalten wird - in den stählernen Magnolien ist es die perverse Fröhlichkeit der an Krebs dahinsiechenden pretty woman Julia Roberts, die nicht nur Pegg Bundy immer wieder ganze Tempo-Familenpackungen vollheulen lässt: hach ! - Und dieses Vollheulen, dieses Ergriffen sein von jener gußeisernen Fröhlichkeit ist genau die Anbetung jenes Ideals kontrafaktischer Heiterkeit, die US-weibliche Variante von der Deutsch-männlichen Fröhlichkeit von Heinz Rühmann und Hans Albers im Mann, der Sherlock Holmes war: "Jawoll meine Herrn !" (Nebenbei: Dieses Männerduett in der Badewanne gesungen ist eine der beachtlichsten Leistungen der Filmgeschichte - zumal zur Nazizeit.)
Aus der oben zitierten Freudschen Beschreibung stimmt eigentlich nur eines - aber das wichtigste: die Abgeschiedenheit des Melancholikers von dem, was der Fall ist: der Welt. Christopher Street Day, Love Parade, FC Bayern München - nichts ist dem Melancholiker mehr zuwider, als der lärmende Betrieb der Masse, der common sense, der Führer, der befiehlt, und die, die ihm folgen. Er steht abseits, an den Türstock gelehnt, und betrachtet das Ganze mit einer Mischung aus Ekel und Langeweile.
Durchaus nicht stimmt, daß der Melancholiker unfähig zur Leistung sei - ein Melancholiker wie Dr. jur Franz Kafka konnte immerhin in Jura promovieren, danach verantwortliche Position in einer Behörde einnehmen, und zugleich ein beträchtlich umfangreiches, hochwertiges literarisches Werk produzieren. In der Abgeschiedenheit von der Welt, die der Melancholiker betrachtet, wie durch eine Glaswand, entwickelt sich so manches zur vollen Reife, was von der Inanspruchnahme durch die lärmende Fröhlichkeit der postmodernen Welt ansonsten erstickt wird. Er kann hohe, höchste Begabungen entwickeln, und sie auch nutzen - der intelligente Melancholiker weiß zudem von seiner Aussenseiterposition, und daß er darob besser sein muß, als die Fröhlichen und Gesunden, die darlings of everybody.
Die philosophische Schule des Melancholikers ist der Zynismus. In seinem Bestreben nach Ruhe und Abgeschiedenheit schraubt der Melancholiker nicht nur seine materiellen Bedürfnisse gnadenlos herunter. Er bleibt, aus der Sicht seiner Umwelt, seiner Lehrer und Vorgesetzten, seines Ehegatten beständig weit hinter seinen Möglichkeiten zurück. Doch der verhältnismässig bescheidene Job, den er dann letztendlich tut - tut er mit links. Er arbeitet wenig, weil er weiß, das sich Arbeit nicht wirklich lohnt, und stets mit Nervereien verbunden ist. Er ist keineswegs faul - in seinem stillen Kämmerlei vermag er beträchtliche, umfangreiche Tätigkeit zu entfalten. Doch nur dann, wenn er dabei in Ruhe gelassen wird. Stundenlang, tagelang kann der Melancholiker darüber sinnieren, wie man eine Arbeit, für die der "Normale" 2 Stunden braucht, in 1 Stunde und 50 Minuten erledigen könnte. Meistens schafft er es dann in 1 Stunde und 30 Minuten - nicht, weil er ein Effektivitätsfanatiker ist, sondern weil es ihn ekelt, und er bloß schnell wieder seine Ruhe haben will. Eben weil er ein Aussenseiter ist, der die normalen Regeln verabscheut und verachtet - ist er mitunter ungeheuer kreativ. Er findet immer Aus- und Schleichwege, wenn etwas hakt oder klemmt, behält in Krisensituationen eine unerschütterliche Ruhe - weil ihn die Krise eigentlich garnicht betrifft, erreicht. Warum auch ? Das schlimmste, was passieren könnte, wäre der Weltuntergang, und gegen den hätte der Melancholiker überhaupt nichts einzuwenden. Nicht umsonst sind die eiskalten Revolverhelden im Western, die Typen mit den unerschütterlich kalten Nerven häufig Melancholiker: sie pokern hoch - weil ihnen der mögliche Verlust auch des eigenen Lebens letztlich völlig gleichgültig ist. Gleichgültig ist er auch anderen Leben gegenüber. "Erschütternd" oder "unfassbar" oder "entsetzlich" ist es keineswegs für ihn, wenn jemand stirbt, und wenn es Massensterben oder Massenmorde sind. Misanthropisch, wie er nunmal ist, sind solche Ereignisse für ihn auch nur langweilig und nervig. Zu den schlimmsten Zumutungen gehört es für ihn, wenn er einstimmen muß in den Chor der Trauernden und eine allgemeine "Betroffenheit" - der Melancholiker ist nie betroffen, von nichts. Die Welt ist für ihn sowieso ein Jammertal, der Mensch an und für sich nicht ein Ebenbild Gottes sondern eine brutale Bestie (hervorragend dargestellt in "Alien" von Ridley Scott) und seine Mitmenschen ausnahmlos Arschlöcher, unterschieden lediglich durch den Grad ihrer Lästigkeit. So ist es für ihn egal, wenn sich so ein Arschloch aus dem Jammertal verabschiedet, eines oder ein paar Millionen - so what ? Mitleid ist wohl das Gefühl, daß ihm am fernsten ist: fremdes Leid lässt ihn völlig gleichgültig, und philantrophische Helden, die sich dem Unrecht und der Not unter Einsatz des eigenen Lebens entgegenstemmen, sind für ihn einfach nur Dummköpfe.
Sein Witz ist sarkastisch bis in extremste Formen hinein - tiefschwarz sieht er seine Mitmenschen: und meistens liegt er da garnicht so falsch. Er ist radikal pessimistisch. Das Glas ist nicht halbvoll, noch nicht einmal halbleer, sondern "eigentlich" jetzt schon völlig leer und zerborsten. Er ist der, von dem man stets sagt: "Er hat es gleich gesagt." Er verletzt oft schon rein prophylaktisch, kultiviert eine Anti-Nettigkeit, Kratzbürstigkeit, Unzugänglichkeit - wer ihm nahe kommen will, hat es ganz schön schwer, braucht eine extreme Leidensfähigkeit. "Beziehungsunfähig" würde man ihn wohl nennen - auch wenn er in Beziehungen lebt, mitunter verheiratet ist. Ja - das kann der Melancholiker durchaus sein - doch für ihn ist dies nur die Wahl eines kleineren Übels, eine Fassade, ein "fake", das Einvernehmen mit den Idealen und Normen der Welt vortäuscht. Doch in der ehelichen Wohnung hat er sein eigenes Zimmer ("Arbeitszimmer"), häufig ein recht kleines, vollgestopft mit Büchern und skurrilem Krimskrams, das er nur im Notfall verlässt. Und gemeinsam mit dem Partner zu schlafen ist ihm ebenfalls ein Greuel. Er kann ein recht angenehmer Gatte sein - wenn man ihn in Ruhe lässt. Er ist bequem, und lässt seinem Partner ungeheuerlich viel Freiheit. Doch seine Aktzeptanz für Affairen und Nebenbeziehungen seines Partners ist keine Toleranz, sondern schlichte Gleichgültigkeit: er ist froh, daß er weniger in Anspruch genommen wird, die Wohnung öfters für sich alleine hat. Umgekehrt ist er ein idealer Partner für Affairen, Nebenbeziehungen und Seitensprünge - daß er nämlich "mehr" wollen könnte, ist völlig ausgeschlossen. Er will nicht "mehr" - sondern weniger.
Sein Traum vom Wohnen wäre der Leuchtturm "Roter Sand", wenn dieser nur nicht so furchtbar nahe an der Küste stehen würde - etwas weiter draussen, so zwischen den Orkneys und Norwegen würde ihm doch noch besser gefallen.
Er haßt Sex in der Missionarsstellung - weil sie extremes nah-sein, Vereinnahmung, Hingabe bedeutet. "Hingabe" ist etwas, was dem Melancholiker völlig fremd ist, und er schaudert vor Menschen, die sich gerne total ausliefern, Subs und Masos - obschon er sie manchmal nicht ungerne benutzt. Nicht weil er dominant oder sadistisch wäre. Dominant zu sein hieße ja schon wieder "Verantwortung" zur übernehmen - und diese Belastung haßt er wie die Pest. Soll der andere doch sehen, wie er zu seinem Orgasmus kommt, gefälligst für sich selbst sorgen. Der normale Sex, ein bischen schmusen, fummeln, oral stimulieren, und dann "Geschlechtsverkehr" - das gruselt ihn. Eben weil es so "normal" ist - er hat einen Hang zu Perversionen und Deviationen, alleine weil er sich dadurch abgrenzen kann vom normalen - und weil er nicht das mulmige Gefühl haben muß, am Ende doch noch Nachwuchs in die Welt zu setzen, der wieder nur nervig ist, "verpflichtet" und ihn in seiner Ruhe stört. Der Melancholiker ist aber auch ein Gruppensex-Typ: er gönnt gerne seinem Partner und allen anderen gerne etwas, sehr gerne auch sehr viel, und pickt sich aus dem Gewusel seine Häppchen heraus, wie aus einem kalten Buffet diese leckeren kleinen orangefarbenen Früchte mit den dekorativ vertrockneten Blättchen drum herum. An der Balgerei um den Hummer beteiligt er sich dagegen aus Prinzip nicht. Er kann "cuckold" sein (oder das weibliche Gegenstück) - aber nicht deswegen, weil es ihn "sexuell erregen" würde, sondern einfach nur, weil es im Vergnügen macht, zuzuschauen, wie jemand anderes seine Arbeit tut und sich abrackert, wo er sich normalerweise abrackern müsste.
"Verpflichtung" ist ihm ein Greuel - und er haßt nichts mehr, als regelmässige "dates" in Familien, Vereinen oder mit Freunden. Den Melancholiker mit zu den Eltern zu nehmen, ist für seinen Partner stets mit dem Risiko verbunden, enterbt zu werden. Denn der Abscheu des Melancholikers vor dieser Verpflichtung ist so gewaltig, daß er sich mit enormem Fleiß daneben benimmt, unmöglich macht, kein Fettnäpfchen auslässt - um ja bloß nicht mehr eingeladen zu werden.
Der Melancholiker ist alles andere als unglücklich - im Gegenteil. Sein Glück ist still und bescheiden, leise und heimlich. Am glücklichsten ist er, wenn er alleine ist, sich gerade von jemand oder etwas verabschiedet hat. Er lässt gerne los, und entspannt sich. Er sitzt auf Parkbänken und alleine vor leeren Cafés in der Fußgängerzone, mit einer Zeitung oder einem Buch als Schutz vor Ansprache. Er spaziert über Wald und Feldwege, fährt mitunter auch Motorrad - weil: da hat er seine Ruhe vor dem Rest der Welt. Mit großer Sorgfalt widmet er sich kleinen Freuden: Nudeln mit Tomatensoße, Pellkartoffeln mit Quark, selbstgedrehten Zigaretten, eine Dose Bier von der Nachttankstelle - das sind die Feste des Melancholikers, die er genießen kann, wie andere einen Faschingsball.
Er kann ein guter Freund sein, wenn klargestellt ist, daß der andere ihm nicht nahekommen kann - deswegen bevorzugt er Freundschaften mit Leuten, mit denen von vorneherein eine Distanz gesichert ist, allzu große Nähe zuverlässig ausgeschlossen ist. Es sind nicht die Berufskollegen und Sportsfreunde, sondern die ganz anderen, zu denen er sich hingezogen fühlt, und denen er sich öffnen kann. Er liebt die Randständigen und Parias, die Nebelkrähen und outlaws - und natürlich: seinesgleichen, mit denen er sich nächtelang über den Unsinn der Welt auslassen kann, und dabei mitunter befremdliche Fröhlichkeit an den Tag legen kann.
Er ist kein Tröster im Unglück, aber einer, der Wege aus dem Unglück aufzeigen kann - kreativ, wie er nunmal ist. Seine Hilfe ist nicht altruistisch - ihn reizt die Aufgabe, und das Experiment. Er hilft auch nur dann gerne, wenn es nicht mit ernsthafter Arbeit verbunden ist, aber ist aus Gleichgültigkeit materiellen Dingen gegenüber auch recht großzügig. Er liebt höflich-distanzierten Umgang, und gepflegte Konversation in kleiner Runde und unter 4 Augen. Doch von Dauer sind seine Freundschaften nie - irgendwann wird es immer zu eng für ihn, zu nervig - und er bricht aus, gibt sich wieder kratzbürstig und unnahbar.
Seine soziale Bedeutung liegt gerade in seinem Aussenseitertum, seiner Kreativität. Die Melancholie ist der Nährboden der Künstler, der Entdecker und Wegbereiter, aber auch der Kassandra, die sich vor den Danaern auch dann fürchtet, wenn sie Geschenke bringen. Eben weil er alles grundsätzlich anders macht, alles anders sieht - und rabenschwarz.
In seinem Bestreben von der Normalität weg öffnet er neue Türen, produziert Ideen und Erkenntnisse - auch ohne damit für sich selbst "nachhaltigen Erfolg" zu erzielen. Dafür fehlen ihm die nötigen sozialen Eigenschaften. Wenn er überhaupt je berühmt wird, dann posthum. Seine Fähigkeit, Lösungen und Wege ab- und jenseits der Normalität zu finden, macht ihn in der Krise zum Mann (oder zur Frau) der Stunde. Wenn die unfassbare Katastrophe eintritt (die der Melancholiker schon immer geahnt hat), das Unmögliche (das für den Melancholiker nie unmöglich war) möglich gemacht werden muß, empfindet er eine wohlige Behaglichkeit. Die Welt dreht sich um - und dreht sich auf einmal um ihn selbst, den Aussenseiter - hervorragend beschrieben in der "Pest" von Camus. Mit dem Teufel zum Schachspiel setzt er sich mit perverser Wollust an einen Tisch. Die private wie öffentliche oder allgemeine Katastrophe ist sein Karneval, spornt ihn zu Höchstleistungen an. Doch sowie der Pulverdampf sich verzogen hat, verschwindet er wieder im Hintergrund. Der Sieg, der Erfolg, die Rettung - das ist sein Aschermittwoch - und hinterlässt nichts in ihm, als eine gewisse Leere und Müdigkeit. Freude empfindet er nicht. Den sich nun alsbald nach vorne Schlängelnden, die die Früchte seiner Kreativität ernten, setzt er wenig Widerstand entgegen, läßt sich einfach und billig abfinden, beiseite schieben. Denn sowie das sichere Ufer wieder erreicht ist, Normalität einkehrt, wendet man sich wieder vom ihm ab, und wieder den grinsenden Strahlemännern zu - und auch der Melancholiker verliert wieder jedes Interesse, verzieht sich wieder in seine grummelnde Abgeschiedenheit.
Melancholische Grüße vom
Nacktzeiger