Strategie
Guten Morgen !Unter "Strategie" wird heute im allgemeinen Sprachgebrauch meist eine langfristige Planung verstanden - oftmals wird das Wort, vor allem im ökonomischen Sektor, sogar synonym mit "Philosophie" verwendet.
Nichts ist indessen falscher, als dieser Wortgebrauch, wie ich hier vorzustellen mich anheischig mache. Doch zuvor eine kleine Einführung.
Zur Strategie bin ich zufällig gekommen. Ich bin ein spätes Kind der Kriegs- und Nachkriegsgeneration, und das Kriegserlebnis meines Vaters und etlicher Verwandter ist für mich prägend geworden - zumal ich im deutsch-französischen Grenzland (Saarland) aufgewachsen bin. Dementsprechend habe ich mich schon sehr frühzeitig für militärische Geschichte zu interessieren begonnen, und natürlich insbesondere die Geschichte des II. Weltkrieges und des (deutschen) Faschismus.
Irgendwann landet man dann zwangsläufig bei dem spezielleren Thema der militärischen Strategie, über das ich schlicht bei ZVAB mal mehr oder weniger wahllos einige Titel bestellte - darunter nicht nur das Standartwerk, das Lehrbuch "Strategie" von Sir Basil Liddell Hart (eine äusserst empfehlenswerte Lektüre!), sondern auch "Strategie und Taktik" von Günther Blumentritt. Dieser Wehrmachtsgeneral, der am Aufbau der Bundeswehr auch noch maßgeblich beteiligt gewesen war, hatte seine Lehrzeit unter einem der anerkanntermaßen größten Feldherren des II. Weltkrieges absolviert: Erich v. Manstein, dem genialen Strategen der Panzerwaffe, auf dessen Planung der fulminante Frankreichfeldzug der Wehrmacht im Jahre 1940 zurückgeht.
Und Blumentritt nun zitiert gleich zum Anfang seines Buches eine Definition der Strategie, die in meinem Kopf sogleich "zu läuten begonnen hat, wie eine Glocke" (Hercule Poirot in: Mord im Orient-Express), und die ich hier wiedergeben möchte:
»Die Strategie ist ein System von Aushilfen. Sie ist mehr als Wissenschaft, ist die Übertragung des Wissens auf das praktische Leben, die Fortbildung des ursprünglich leitenden Gedankens entsprechend den stets sich veränderten Verhältnissen, ist die Kunst des Handelns unter dem Druck der schwierigsten Bedingungen. Die Strategie ist die Anwendung des gesunden Menschenverstandes auf die Kriegsführung; ihre Lehren gehen wenig über die ersten Vorsätze des gesunden Verstandes hinaus; ihr Wert liegt ganz in der konkreten Anwendung. Es gilt, mit richtigem Takt die in jedem Moment sich anders gestaltende Lage aufzufassen und danach das Einfachste und Natürlichste mit Festigkeit und Umsicht zu tun. So wird der Krieg zur Kunst, einer solchen freilich, der viele Wissenschaften dienen. Der Krieg, wie jede Kunst, erlernt sich nicht auf rationalistischem, sondern nur auf empirischem Wege. Im Kriege, wie in der Kunst, gibt es keine allgemeine Norm, in beiden kann das Talent nicht durch eine Regel ersetzt werden.«
Helmuth v. Moltke, preuss. Generalfeldmarschall - zit. nach Blumentritt, Günther: Strategie und Taktik, Konstanz: Athenaion, 1960, S. 6.
Sofern man sich nicht mit einer postmodern-pazifistischen Abneigung gegen alles Militärische schlechthin beim Verständnis dieser wunderbaren Textstelle selbst im Wege steht, meine ich, daß es nur bedarf, den Begriff des Krieges durch sympathischere Begriffe zu ersetzen, ja selbst bis zum Leben als solchem, um zu erahnen, daß sich in der Strategie, ursprünglich der rein militärischen Feldzugskunst ein Denken verborgen hält, daß dem neuzeitlich-aufklärerisch-wissenschaftlichem Denken fremd, ja sogar konträr ist.
Die Strategie ist keine "Planung" - sondern eine Kunst im Sinne von ars (lat.) und techne (gr.), die 'Kunst des Handelns unter dem Druck der schwierigsten Bedingungen', die Kunst des menschlichen Verhaltens in Konfliktsituationen.
Beispielhaft dafür möchte ich hier die Leitsätze der Strategie aus dem Lehrbuch von Liddell Hart, dem großen Militärschriftsteller des 20. Jahrhunderts, zitieren, ohne seine Erläuterungen dazu:
1. Stimme Dein Ziel auf die zur Verfügung stehenden Mittel ab.
2. Verliere das Ziel niemals aus den Augen, wenn Du Deinen Plan den Verhältnissen entsprechend abwandelst.
3. Wähle einen Weg, den der Gegner am wenigsten erwartet.
4. Nutze die Richtung des geringsten Widerstandes.
5. Nimm eine Operationsrichtung, die verschiedene Ziele anbietet.
6. Stelle sicher, daß sowohl Dein Kriegsplan, als auch die einzelnen Dispositionen flexibel sind, daß sie sich den Verhältnissen anpassen können.
7. Wirf Dich nicht auf einen Gegner, der auf der Hut ist, dessen Stellung so gut ist, daß er Deinen Schlag parieren oder ihm ausweichen kann.
8. Nimm keinen Angriff in der gleichen Richtung (oder in der gleichen Form) wieder auf, wenn der erste fehlgeschlagen ist.
(Basil Liddell Hart: Strategie, Rheinische Verlagsanstalt, o.J., S. 412 f)
Diese Leitsätze hat Liddell Hart auf induktivem Wege durch die Untersuchungen von Feldzügen seit den Perserkriegen bis hin zum II. Weltkrieg ermittelt.
Für mich ist die militärische Strategie eine Art Reservat, ein Refugium voraufklärerischen Denkens, das sich den Anforderungen, die das wissenschaftliche Zeitalter an das Denken stellt: vor allem denen der logischen Stringenz und Widerspruchsfreiheit, schlicht entzieht. Ihr Wert liegt ganz in der praktischen Anwendung (Moltke), theoretische Plausibilität ist belanglos gegenüber praktischem Erfolg oder Mißerfolg. Die Strategie erhebt auch keineswegs den Anspruch, Wissenschaft zu sein - sie ist eine Kunst, ähnlich wie die Jurisprudenz und die Medizin, die Heilkunst, die Ingenieurskunst.
Ich werde heutezutage geradezu wild, wenn ich in Diskussionen immer wieder mit der aktuellen Auffassung von Kunst konfrontiert werde, die den Kunstbegriff auf das Bekleckern von Leinwänden, das Zusammenschmieren von Schnulzen, das Herumhopsen vor Zuschauern oder einer Kamera und das Erzeugen rhythmischen Lärms - die sogen. "schönen Künste" reduziert. Die Strategie gehört wie ihre oben schon genannten Schwestern aus der Welt des Rechts, der Heilkunde und der Technik ebenso zu den Künsten, ja ist für mich weitaus wertvoller als jene "beaux arts".
Mein kognitives Interesse gilt vornehmlich genau diesen Künsten, in denen ich weitaus mehr an geistiger Fruchtbarkeit für mein konkretes Leben und für mein Denken bereits heute schon entdeckt habe, als in pseudowissenschaftlichem Gefasele und logischen Klügeleien.
Ich erlaube mir daher, diese uralte Disziplin menschlicher Geistigkeit auch hier einmal zum Thema machen zu wollen.
Zackiger Gruß vom
Nacktzeiger