Einige der bisherigen Reaktionen auf den Text „Komplexophobie“ sind Beispiele für unzulängliche Etikettierungen. Bei der angesprochenen Unschärfe textbasierter Kommunikation handelt es sich bei den folgenden Deutungen selbstverständlich um mögliche, die, ebenso selbstverständlich, zur Debatte gestellt werden.
Die Beiträge von horowitz und Diotimavera zeigen eine Interpretation des Textes, die jede für sich eine deutliche Wertung des Autors als Person, eine Etikettierung, nahelegen, die nach meinem Dafürhalten nur sehr vermittelt und mit viel eigenem Anteil aus dem Text herauszulesen sind. Diotimavera scheint aus der Überzeugung heraus zu schreiben, es handele sich bei somamann um einen eingebildeten Gebildeten, der sich über andere erhebt, auf die er hinabsieht und die er als beschränkte Kleingeister verspottet. Der Beitrag beginnt mit:
hättest du freundlicherweise die Güte, meinem Kleingeist zu huldigen und mir mitzuteilen …
Eine ironische Verbeugung, die mit dem Wort „Kleingeist“ spielt und damit eine Entgegensetzung vornimmt: die Fragende stellt sich ironisierend auf die Ebene des Kleingeistes und bittet den auf höherer Ebene stehenden Autor höflich im Sinne von hofierend um eine Unterweisung. Damit will sie die überhebliche Geste des Autors als lächerliche Selbstüberschätzung vorführen. Ihr gewählter Ausdruck soll dieser Bloßstellung eine überlegene, souveräne Form verleihen.
Weiter heißt es:
… was genau du hier für eine philsophische Fragestellung aufwirfst und mit uns disputiert haben möchtest...?
Die Entgegensetzung wird jetzt ausdrücklich und weist dem Autor seine ihm zustehende Position; außerhalb der philo-community. Er gehört nicht zu ihnen, sondern ist ein Geduldeter, dem die wohlwollende Aufmerksamkeit einer weltoffenen und generösen Philosophengilde, der eigentlich Gebildeten, leihweise zuteil wird. Auch hier die Unterstreichung durch einen gehobenen Ausdruck (disputiert). Man wird sich nicht den Vorwurf der Arroganz einhandeln und diesen Hochstapler sofort hinauswerfen. Er soll seinem völlig überhöhten Anspruch ersteinmal selbst gerecht werden und zeigen, daß er keiner ist. Der Hinweis auf eine fehlende konkrete Fragestellung ist natürlich gerechtfertigt, stellt aber vor dem Hintergrund der bis hierher auf ironische Weise transportierten Etikettierungen nahe, daß man davon ausgeht, daß gerade dieses Fehlen einer Frage ein Beweis für die arrogante Selbstüberschätzung ist; der Autor hält sich für einen der ganz großen Denker, dessen Theorie gar keine Fragen offenlässt.
Die Generosität bekommt ihren deutlichsten Ausdruck in der Wendung:
… und wenn du tatsächlich wissen magst, wie ich zu dieser Gegenpositition komme, darfst du mich gerne fragen.
Es wird eigentlich nicht erwartet, daß ein Interesse besteht. Erwartet wird vielmehr, daß der Autor es nicht für nötig hält, sich mit intellektuell Unterlegenen zu befassen. Im letzten Teilsatz wird dann auch der Spieß umgedreht; tatsächlich ist der Autor der Bittsteller, der froh sein kann, wenn man sich mit ihm befasst. Das könne nämlich nur „evtl.“ der Fall sein. Dies wurde eingangs angedeutet mit dem Satz:
Gerne beteilige ich mich dann evtl. am Gespäch.
Der Schluss bietet nochmal eine interessante Bemerkung, die den Auftritt des Autors als eigentlich lästige und ärgerliche, aber im täglichen Geschäft nunmal unvermeidliche Störung kennzeichnen soll:
Gruss Dio, die nicht gerne ihre Zeit verschwendet...
Diese Bemerkung ist deshalb interessant, weil Zeitverschwendung das am wenigsten mit dem Text in Zusammenhang stehende und somit das am weitesten hergeholte Thema ist. Die Verfasserin des Beitrags verfügt selbst frei über ihre Zeit und könnte höchstens die Lektüre des Textes selbst als Zeitverschwendung bezeichnen.
All diese und weitere unterschwellig transportierten Inhalte stecken in einem kurzen Beitrag, der sich auf einen Text bezieht. Sie sind meiner Auffassung nach mit einem gesunden Menschenverstand im Vorbeigehen zu erfassende Zuschreibungen. Um sie wahrzunehmen, muss man nichts über Sprechakte oder Diskursanalyse wissen. Man muss nur alt genug und seine Zeit mit offenen Augen und Ohren durch die Welt gelaufen sein.