Es geht hier sehr lebhaft zu, und wenn man den Tag über weg ist, sind viele neue Richtungen eingeschlagen worden, wenn man am Abend zurückkehrt. Das ist Pluralismus; irgendwas kommt immer dabei heraus. Und sei es nur die ganz eigene Komplexität eines mäandernden Stroms der Meinungen auf einer Seite, zu der eine bestimmte Zahl von Leuten Zugriff nimmt.
Das Interesse an den Wörtern Komplexität und Komplexophobie sticht deutlich hervor, wobei die Beiträge dazu alles Mögliche beisteuern und alle möglichen Begriffe davon zu formulieren suchen. Die Welt ist ausgesprochen komplex und das Sichzurechtfinden in ihr hängt meiner Meinung nach in erster Linie davon ab, wie dieser äußeren Komplexität durch eine innere begegnet werden kann. Je eingeschränkter die innere Vielseitigkeit, der Geist, desto unangemessener und unzureichender die Antworten an die Welt und desto beschränkter das Selbstbild. Nicht die Menge des Wissens entscheidet über die Angemessenheit der Antworten, sondern die Güte.
Mein Begriff von Komplexität ist am ehesten mit den Wörtern Vielschichtigkeit, Vielgestaltigkeit und Vieldeutigkeit umschrieben. Wie gesagt, es geht mir in erster Linie um Kommunikation und um das Phänomen, daß Menschen einander Etiketten aufkleben, die ihnen nur unzureichend gerecht werden. Daß wir mit Etiketten hantieren müssen, um uns überhaupt erkennen zu können, ist für mich eine Tatsache. Wir gehen notwendigerweise mit Vorurteilen aufeinander zu, weil wir nur das erkennen können, was wir schon einmal erkannt haben.
Die Art und Weise, wie wir uns unserer Vorurteile bewusst sind, entscheidet darüber, wie angemessen wir mit den Dingen, also hier den Anderen, umgehen. Nehmen wir die Vorurteile als (unwechsel)bare Münze, sind wir an sie gefesselt und blind für die unverwechselbare Einzigartigkeit eines Menschen. Dann erscheint uns ein bestimmter Mensch beispielsweise als „Mann“ (mit den Eigenschaften, die wir „dem Mann“ zuschreiben), als „Handwerker“ (mit den Eigenschaften, die wir „dem Handwerker“ zuschreiben), als „Alt-Hippie“ (mit den Eigenschaften, die wir „dem Alt-Hippie“ zuschreiben) usw. Nehmen wir die Vorurteile als Vor-Urteile, als nur vorläufig anzuhängende Etiketten, halten wir den Blick offen für das, was diesen Menschen tatsächlich ausmacht. Dafür müssen wir prinzipiell offen sein für das, was ich Komplexität nenne: die Vielschichtigkeit, Vielgestaltigkeit und Vieldeutigkeit dieses Menschen. Ich habe das neulich so formuliert: „Die Menschen, denen wir begegnen, sind jeder für sich einmalige, unwiederholbare Perlen, und es reichte ein Menschenleben nicht aus, um auch nur eine von ihnen wirklich kennenzulernen. Jeder ist etwas ganz Besonderes und sollte das auch wissen. Und zwar als eine ganz persönliche Einsicht in die wunderbare Dialektik, die darin steckt; daß wir alle gleich sind, wenn jeder von uns eine einmalige, unwiederholbare Perle ist.“
Darin steckt auch die Schwierigkeit, daß wir selbst alle mehr oder weniger solche Etiketten wie „Mann“, „Handwerker“, „Alt-Hippie“ usw. vor uns hertragen und die damit verbundenen Bedeutungen verinnerlicht haben. Als Mann verhalten wir uns natürlich auch irgendwie „typisch männlich“.
Komplexophobie ist somit ein Zurückweichen vor den unbekannten Möglichkeiten, die sich prinzipiell eröffnen. Wir könnten uns theoretisch selbst entwerfen, weil wir faktisch nicht mehr gebunden sind.