Komplexophobie
Die Welt verkleinert sich mit wachsendem Geist. Sie wird dabei nicht einfacher, ganz im Gegenteil. Aber es wird leichter, sie zu verstehen. Einem sogenannten Kleingeist erscheint sie übergroß und kompliziert. Die wenigen Kriterien, die er zur Entschlüsselung ihrer Erscheinungen zur Hand hat, reichen nicht aus, um der Vielgestaltigkeit der Dinge angemessen zu begegnen, sie zu ordnen und zu beurteilen. Er kann den Reichtum dieser Erscheinungen, den verschwenderischen Überfluss ihrer Gestalten nicht erkennen, und so ist er genötigt, die beängstigende Flut der Formen durch sein grobes Raster zu zwingen. Damit wird er zum facettenarmen Rohling, zum groben Klotz, denn als solcher kommt er selbst unten aus diesem einfachen Rost, durch den er ja auch muss.Die Bescheidenheit seiner Kriteriensammlung wird im Spiegel seiner begrenzten sprachlichen Möglichkeiten deutlich; er kann sich weder zur Welt noch zu sich selbst angemessen äußern und wird automatisch nur jenen Verständnis entgegenbringen können, deren Deutungsspielraum ähnlich eng ist. Ein hervorstechendes Merkmal für diese Zusammenkünfte sind Gemeinplätze, auf denen sich trefflich tummeln, nicht aber zu neuen Erkenntnissen gelangen lässt. Mit diesen ungeprüften Topoi im Kopf fühlt er sich in der Lage, andere sehr schnell beurteilen und einordnen zu können und tut es auch, ohne jedoch seine Entscheidungen mit stichhaltigen Argumenten begründen zu können. Das geht solange gut, wie er seine Entscheidungen zusammen mit Ähnlichdenkenden findet und bespricht. Er ist aber außerstande, an einem Streitgespräch teilzunehmen, das sich nicht eine zügige Einordnung oder abschließende Beurteilung, sondern die möglichst vielseitige Würdigung eines Themas, insbesondere eines Menschen und seiner Äußerungen, zum Ziel setzt. Er kann es nicht, weil er schon einen Stempel zur Hand hat, den er dem Thema aufdrücken will. So befindet er sich in einer Situation, in der er seine Entscheidung gefunden zu haben meint, sich aber verständnislos abwendet, weil er sich unverstanden fühlt. Für die zurückbleibenden Teilnehmer hat er bereits einen weiteren Stempel parat, den er wahrscheinlich schon oft gezückt hat; es wird nicht das erste Mal gewesen sein, daß er auf geschwollen daherredende Klugscheißer getroffen ist. Ein Ausweg aus diesen Situationen ist wieder ein Topos: „Man kann auch alles zerreden.“ / „Das liegt im Auge des Betrachters – Jeder sieht die Welt anders.“ / „Ich weiß, wovon ich spreche; ich habe da so meine Erfahrungen gemacht.“ Solcherlei Ausstiege aus Streitgesprächen bzw. Einstiegsverweigerungen sind mögliche Kennzeichen der Barriere zwischen Menschen mit unterschiedlich komplexen Vorstellungen.
Sprachliche Eingeschränktheit und Kriterienarmut sind übrigens kein verlässlicher Hinweis auf Kleingeistigkeit und Verbohrtheit, und ebensowenig ist eine vielschichtige Vorstellungswelt und das damit einhergehende sprachliche Vermögen ein Garant für eine flexible und tolerante Grundhaltung. Es gibt jene mit dem Bedürfnis, ihre sprachlichen und Urteilskompetenzen zu erweitern und diese, die ihren Kleingeist und ihre Verbohrtheit hinter Wissen und Beredsamkeit verbergen. Wäre das nicht so, könnte man sich getrost der Vereinfachung der Erscheinungen widmen und mit fünfzinkigen Kämmen über sie hinwegfahren oder sie in Förmchen drücken, um eine überschaubare Gruppe von Matrjoschkas daraus zu machen und sie in seinen Setzkasten zu stellen. Man bräuchte nur hin und wieder das Staubtuch zur Hand zu nehmen, und die Welt glänzte in berückender Klarheit. Aber sie ist nicht so.