taktische Koketterie
Menschen leben ausgeglichen und ganzheitlich ohne sexuelle Kontakte oder Beziehungen und sie sind sich selbst genug. Kann es so etwas geben?
Spontan würde ich erstmal sagen: Nein.
Menschen in unserer Stadt und unserem Land, die einfach kein sexuelles Verlangen haben und es für sie so auch total OK ist. Was treibt sie zu dieser Lebensform?
Dergestalt näher bestimmt, fallen mir - abgesehen von pathologischen Störungen (also Krankheiten) - drei Gründe ein, warum jemand so lebt:
Der erste wäre schlicht das Alter: Jenseits der 60/70 dürfte das rein körperliche sexuelle Begehren stark nachlassen, sofern man das ausschließlich mit dem Austausch von Körperflüssigkeiten in Verbindung bringt. Die Sehnsucht nach Streicheleinheiten dürfte bleiben. Ich kann mir aber durchaus vorstellen, daß jemand, der seinen langjährigen Ehepartner an den Sensenmann verliert, keine große Lust mehr verspürt, sich die Erinnerung an die Hautwahrnehmung kaputt machen zu lassen. Das will ich aber noch nicht abschließend beurteilen, da ich selber noch nicht so alt bin.
Der zweite Grund wäre schlicht ein Gefühl der Übersättigung mit der allgegenwärtigen Sexualität in den Medien und in der Werbung. Sowie auch im Alltag: Was an optischer sexueller Belästigung von den jungen Dingern insbesondere in den Sommermonaten mitunter so aufgetragen wird, kann einen schonmal sehnsüchtig an den Schutz dicker, kühler Klostermauern denken lassen. Ich habe durchaus Phasen, wo mich das alles ziemlich ankotzt, aber hinterher stelle ich meist fest, daß das nur ein Sublimat war: Daß meine Abneigung andere Ursachen hatte.
Den dritten Grund möchte ich mal als taktische Koketterie bezeichnen: Bei sexuellen Kontakten ist es nicht ganz unwichtig, daß man sich auch ein wenig rar macht: Der Typus "Flittchen, das es mit jedem treibt" oder "geiler Bock, der alles fickt, was ein Loch hat" ist als Sexualpartner meist uninteressant. Auch Partnerschften, in denen einer dem anderen generell hinterherrennt, wo also ein Ungleichgewicht an Eigendrehung und also "sich-rar-machen" herrscht, stehen meist unter keinem guten Stern. Das ist in gewisser Weise auch eine Machtfrage, und der wohl bekannteste künstlerische Ausdruck dieses Themas ist die "Lysistrata-"Kommödie des Aristophanes.
Es kommt dann vor, daß Menschen zwischenmenschliche (sexuelle) Beziehungen ausschließlich unter diesem Gesichtspunkt des sich-rar-machens betrachten: Daß sie überall herumerzählen, daß sie gar keinen Bock mehr auf Sex haben, natürlich in der heimlichen Hoffnung, sich gerade dadurch interessant zu machen. Dies meine ich mit taktischer Koketterie.
Das funktioniert aber meist nicht, weil fast jeder die Absicht spürt.
Daß Buddha und andere Wüstenprediger mit der Masche noch durchgekommen sind, lag nur daran, daß die Menschen damals noch nicht so aufgeklärt waren, wie wir das heute sind.