geschätzter allrounder
Doch dabei stellt sich mir unweigerlich die Frage, warum es überhaupt möglich ist, Anhänger für die eigene Utopie zu gewinnen.
Es gibt Grundkonstanten der menschlichen Seele. Das sorgt für weit verbreitete, gleichgerichtete Resonanzbereitschaft.
Eine bei den meisten Menschen angelegte psychische Disposition ist die zum Neid, damit einhergehend die zum Egalitarismus.
Untersuchungen zeigen, dass die Mehrzahl von Testteilnehmern am Ende eines spielerischen Settings lieber absolut weniger „Geld“ besitzen als zu Beginn, wenn nur die Anderen, die vormals mehr als sie hatten, jetzt auch nicht mehr besitzen.
Die Alternative, am Ende des Spiels mehr zu besitzen als vorher, bei jedoch größerer Differenz zu den Anderen, ist nur für eine Minderheit interessant.
Scheinbar irrational....lieber geht es uns schlechter, als dass es dem Anderen besser geht....von dieser Art gibt es einige scheinbar sozial kontraproduktive psychische Konstanten, die - geschickt angesprochen - zu mächtigen Instrumenten der Massenpsychologie werden.
Eine andere Erklärungsebene ist die der Erlösungsphantasie. Die säkularisierte Gesellschaft kann auf kein jenseitiges Heil hoffen...auf keine Weiter“sein“ nach dem Tod...verzweifelt sucht man nach dem Heil im Jetzt. Die Interpretation der utopistischen Ideologien wie Faschismus und Kommunismus als „Ersatzreligionen“ ist ja mehr als schlüssig.
Wir haben im Verlauf der Diskussion bereits festgestellt, dass die Utopie eines jeden Menschen sich von der eines jeden seiner Mitmenschen wohl mehr oder weniger unterscheidet. Warum sollte nun auch nur ein Mensch die Utopie seines Mitmenschen mittragen, so sie doch nicht bis ins letzte Detail der eigenen entspricht?
Es geht wieder um die Konstanten...um die großen Linien...die alten Gesänge, Klanglinien der urmenschlichen Sehnsüchte...
Wenn Utopisten tatsächlich allesamt gewaltbereit und/oder herrschsüchtig sind, warum haben manche von ihnen überhaupt auch nur einen Anhänger (gehabt), wo doch ein jeder durch kurzes Nachdenken zu dem Schluss gelangen kann, dass er selbst einmal der Herrsucht und Gewaltbereitschaft des Utopisten zum Opfer fallen kann? Verleugnet er in solcher Vorgehensweise die Realität und/oder seine eigene Utopie?
Nein, natürlich ist nicht jeder Utopist per se gewaltbereit und/oder herrschsüchtig - und schon gar nicht jeder Mensch, der Utopien hegt. Aber der Versuch, eine Utopie zu
realisieren produziert unausweichlich Radikalismus, Totalitarismus und Gewalt...das ist die Tragik...beim Streben nach dem Besten produziert man das Schlimmste.
Im Sehnen denken die Menschen nicht nach...unsere „Vernunft“ wird von uns maßlos überschätzt.
Ich sehe die (meine?) Realität um mich herum, und erkenne sie an; gleichzeitig trage ich in meinem Kopf eine Utopie von einer Welt ohne Leiden für Mensch und Natur durch mein Leben, wissend, dass diese Utopie meine ganz persönliche ist; und meine Erstrebung derselben allenfalls in spezifischen gemeinsamen Punkten an der Seite diesbezüglich Gleichgesinnter und ansonsten allein in meinem Leben Umsetzung findet. Bin ich für Dich nun Realist oder Utopist?
Du scheinst mir ein Realist mit einer Utopie. Utopist würdest Du, wenn Du ein geschlossenes Ideologie- und Handlungskonzept hättest, die ganze Welt zu befrieden.
Für mich ist eine Welt ohne Gewalt durchaus erstrebenswert.
Für mich auch, aber
das ist eine Utopie! Und das sollten wir uns besser klarmachen...
"Pacifism is objectively pro-fascist. This is elementary commen sense!"
George Orwell / pacifism and war / 1941