Kontroverse Auseinandersetzung ist kreative Philosophie
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Philosophie und Kreativität
Der 20. Deutsche Kongress für Philosophie (2005 TU Berlin)
[qoute] Philosophische Ressentiments
Die akademische Philosophie begegnete der Kreativität meist mit Ablehnung. Für sie war die rationale Methode die einzige Möglichkeit, produktiv zu philosophieren. Kreativität wurde mit spontanem Chaos gleichgesetzt, das sich der wissenschaftlichen Beschreibung entzieht.
Die Philosophen überließen die Kreativität den Künstlern, die sie nicht sehr freundlich behandelten. So verbannte bereits Platon die Dichter aus seinem Idealstaat. Der offene Charakter des Kreativen, der sich nicht strukturieren lässt, faszinierte die Künstler. Sie wagten das Experiment, das häufig gesellschaftliche oder kulturelle Grenzen überschritt, während die Philosophen im labyrinthischen Fuchsbau ihrer Gedankensysteme verharrten.
Schwer fassbarer Freund?
Günter Abel, Professor für Philosophie an der Technischen Universität Berlin und gleichzeitig Organisator des Kongresses, bezeichnete die Kreativität als "einen schwer fassbaren Freund", der das Selbstverständnis der Philosophie in Frage stelle. Er sprach von der philosophischen "Kreativitätsvergessenheit", sah aber den Kongress als günstige Gelegenheit, dieses Defizit zu bereinigen.
Perspektivenwechsel
Kreativität lässt sich nicht auf bereits bestehende Normen, Prinzipien oder Regeln reduzieren. Ähnlich wie Thomas Kuhn oder Paul Feyerabend beschrieb Abel kreative Prozesse als das
Aufbrechen verkrusteter Strukturen, das mit einem Wechsel gewohnter Sichtweisen einhergeht. Die Diskussionen über das schillernde Phänomen Kreativität konnten keinen Konsens erzielen, weil schon die Ausgangspunkte zu verschieden waren.
Was ist nun Kreativität?
Abel: "Die einen sagen, das sind alles nur Hirnfunktionen; die anderen sagen, dass ist eine Geschichte, die nur mit Sprachfunktionen zu tun hat; die dritten sagen, das sind mentale Prozesse, die man nie auf Hirnfunktionen reduzieren kann und auch nicht einfach nur - das würden die vierten sagen - auf Grammatik und Sprachlogik".
John Searle: Gegen das Computermodell des Geistes
Noch immer gibt es Theoretiker der Kognitionswissenschaften, die sich am Computermodell des Geistes orientieren. Das meint, dass sie die Kreativität als schwer zu durchschauendes Phänomen ansehen; sie sind dennoch überzeugt, dass ihr ein Kalkül zugrunde legt, dass es nur noch zu entdecken gilt.
Der amerikanische Philosoph John Searle, der an der University of California, Berkeley lehrt, wandte sich gegen das Computermodell des Geistes. Dieses Modell vergleicht das Verhältnis von hardware zu software eines Computers mit der Unterscheidung von Gehirn und Geist. Der Geist funktioniere - so lautet die These - wie ein Computerprogramm, das sich darauf beschränkt, Symbole zu verknüpfen.
Searle wies darauf hin, dass sich das kreative Denken nicht auf eine Symbolverknüpfung auf syntaktischer Ebene reduzieren lasse, sondern sich auf die semantischen Inhalte beziehe. Computerprogramme könnten zwar bereits Vorhandenes kombinieren, nicht aber etwas völlig Neues zu schaffen, das sich jeder Formalisierung entzieht.
Radikale Kreativität
In der Kunst und in den Wissenschaften existiert eine Form der Kreativität, die Günter Abel als "radikale Kreativität" bezeichnete. Er versteht darunter das Projekt, künstlerische oder wissenschaftlichen Standards völlig umzustoßen und bisher gültige Regeln nicht länger zu befolgen.
Als Beispiele nannte er die Zwölftonmusik von Arnold Schönberg, der die tonalen Hörgewohnheiten zerstörte; den Kubismus von Pablo Picasso und Georges Braque, der die Sichtweise der gemalten Wirklichkeit veränderte und Albert Einstein, der die zeitgenössische Raum- und Zeitkonzeption revolutionierte.
Die Entdeckung des Unbewussten durch Leibniz
Eine ähnliche radikale Innovation erwähnte die in Berlin lebende Philosophin Simone Mahrenholz. Der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz, der die rationalen Strukturen im menschlichen Denken analysierte, entdeckte bei seinen Forschungen die "petites perceptions".
Das sind kaum zu registrierende Wahrnehmungen unterhalb der Bewusstseinschwelle. Leibniz spricht von einer unendlichen Menge von Wahrnehmungen, die uns nicht bewusst sind, und "die uns bei vielen Vorfällen bestimmen, ohne dass man daran denkt".
Leibniz nimmt Freuds Entdeckung, dass das Ich nicht länger Herr im eigenen Haus sei, vorweg und destruiert somit einen rationalen Ichbegriff, der Jahrhunderte lang die akademische Philosophie bestimmte.
Aubenque gegen die Kreativität
Den Konsens der meisten Teilnehmer/innen, Kreativität positiv zu besetzten, durchbrach der in Paris lehrende Philosoph Pierre Aubenque. In seinen Ausführungen stellte der international renommierte Aristoteles-Forscher die Frage, ob in der Ethik Platz für Kreativität sei und welche Instanzen eine kreative Ethik legitimierten.
Nach langwierigen Ausführungen über Aristoteles und Kant kommt er zu dem Ergebnis, dass die "Schwäche der Kreativität sei, dass sie sich per definitionem nicht rechtfertigen könne, da sie ja wegen ihres spontanen Charakters sich nicht auf vorher bestehende Prinzipien stützen könne".
Seine ethischen Prinzipien seien die ewig gültige Werte "gut - böse". Aubenque versicherte, dass er sich bewusst sei, dass er dem Geist des Kongresses zuwiderhandle.
Der Vortrag von Pierre Aubenque zeigte, dass die Wertschätzung der Kreativität in der akademischen Philosophie nicht von allen ihren Repräsentanten geteilt wird. Noch immer werden Letztbegründungen und ewig gültige metaphysische Werte als wesentliche Instanzen der philosophischen Reflexion angeführt.
Nikolaus Halmer, Ö1-Wissenschaft, 4.10.05