@ diANaone
Es steht noch eine Antwort aus, die sich auf die Entmenschung der Natur und die Vernatürlichung des Menschen bezieht. Die Antwort ist nicht leicht, geht sie doch weit über die Zarathustra-Diskussion hinaus und umfasst einen wesentlichen Teil Nietzscheschen Denkens. Es bleibt mir die Hoffnung, dass ich in der Kürze des nachfolgenden Textes (!) ein wenig mehr Helligkeit ins Dunkel bringen kann. Die Grenze zwischen Natur und Mensch existiert m.E. da, wo der Mensch sich der Natur immer mehr entfremdet. Der Mensch will die unbeherrschbare Natur beherrschen. Der dem römischen Humanismus entlehnte Satz: Quidquid agis, prudenter agas et respice finem (was auch immer du tust, handle klug und bedenke das Ende) scheint immer mehr in den Hintergrund gedrängt zu werden.
Wenn sich auch unser physisches Dasein von der Natur nicht trennen lässt, so gibt Nietzsche zu bedenken: „Die Natur ist böse, sagt das Christentum; sollte das Christentum also nicht ein Ding wider die Natur sein? Sonst wäre es ja, nach eigenem Urteil, etwas Böses.“ (Kritik der Religion).“ Es sind die christlichen Moralvorstellungen, die Nietzsche überwinden will und die nach seiner Diktion zur Notwendigkeit der Entmenschung der Natur führen. Es geht bei diesem Thema auch um den Dualismus zwischen Leben und Erkennen (was aber noch ein weiteres Tor zu Nietzsche öffnet).
Im vierten Buch der „Morgenröte“ sagt Nietzsche über die Menschlichkeit: „Wir halten die Tiere nicht für moralische Wesen. Aber meint ihr denn, dass die Tiere uns für moralische Wesen halten? – Ein Tier, welches reden konnte, sagte: „Menschlichkeit ist ein Vorurteil, an dem wenigstens wir Tiere nicht leiden.“ An anderer Stelle (Die Fröhliche Wissenschaft) heisst es: „Wann werden wir die Natur ganz entgöttlicht haben! Wann werden wir anfangen dürfen, uns Menschen mit der reinen, neu gefundenen, neu erlösten Natur zu vernatürlichen!“ Ohne einen Anspruch auf die letzte Weisheit zu erheben, denke ich, dass man in diesem Zusammenhang die Grundlagen des Nietzscheschen Denkens mit einbeziehen muss. Nietzsche war zunächst geprägt durch den erschliessenden Skeptizismus des griechischen Philosophen Pyrrhon, dessen Credo man angelehnt an einen seiner Nachfolger, Michel de Montaigne, wie folgt zusammenfassen kann: „Es ist eine törichte Anmassung, das, was uns unwahrscheinlich vorkommt, verächtlich als falsch abzutun. Wie viele Dinge gibt es doch, die kaum wahrscheinlich sind und die wir, wenn sie uns nicht überzeugen, mindestens offenlassen müssen. Denn sie als unmöglich verwerfen, das hiesse, sich verwegen einzubilden, man wüsste, wo die Grenze des Möglichen liegt.“ Die erschliessende Skepsis bezweifelt nicht, was ist, sondern sie bezweifelt die Meinung, etwas könnte nicht sein. Sie weiss, dass die üblichen Kriterien der Wahrscheinlichkeit nicht ausreichen, um zu entscheiden, ob etwas möglich oder unmöglich ist. Nur die pyrrhonische Skepsis leitete aus den Instinktfähigkeiten und der Sinnesschärfe der Tiere eine Bezweiflung der Einzigartigkeit menschlicher Vermögen ab. Der Sinn ist klar: der Mensch wird seiner Sonderstellung enthoben und in Ranggleichheit mit dem Tier einer mütterlichen Naturordnung überantwortet, die ihn umso mehr sichert, je mehr er bereit ist, von seinem Herrschaftswillen abzulassen. Bei Nietzsche heisst es dann: „Der Glaube an die Wahrheit beginnt mit dem Zweifel an allen bis dahin geglaubten Wahrheiten“ (Menschliches, Allzumenschliches II) oder „Der Mensch als Gattung stellt keinen Fortschritt im Vergleich zu irgendeinem anderen Tier dar“ (nachgelassene Schriften). Ein weiterer Grundleger Nietzscheschen Denkens war Dionysos. In der „Geburt der Tragödie beschreibt er das dionysische Prinzip: „Das Wesen des Dionysischen wird uns am nächsten noch durch die Analogie des Rausches gebracht. Entweder durch den Einfluss des narkotischen Getränkes, von dem alle ursprünglichen Menschen und Völker in Hymnen sprechen, oder bei dem gewaltigen, die ganze Natur lustvoll durchdringenden Nahen des Frühlings erwachen jene dionysischen Regungen, in deren Steigerung das Subjektive zu völliger Selbstvergessenheit hinschwindet. Unter dem Zauber des Dionysischen schliesst sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen.“
Die Entwicklung vom dionysischen Naturverständnis bis zum gegenwärtigen (nach meiner Ansicht hat sich das seit Nietzsche nicht wesentlich zum Positiven gewendet), ist meines Erachtens der Grund für seinen Ansatz zur Entmenschung der Natur bzw. zur Vernatürlichung des Menschen. Nietzsches Diktum „Gott ist tot“, sein Wiederkunftsgedanke und seine Theorie vom Übermenschen stehen im gleichen Zusammenhang. „Wie könnte man die Entwicklung der Menschheit opfern, um einer höheren Art, als der Mensch ist, zum Dasein zu verhelfen?“ „Der Mensch ist das Untier und Übertier; der höhere Mensch ist der Unmensch und Übermensch: so gehört es zusammen.“(Nachgelassene Schriften) „Da es keinen Gott mehr gibt, ist die Einsamkeit nicht mehr zu ertragen: der hohe Mensch muss ans Werk.“ (Prinzip einer neuen Wertsetzung). Lass mich mit einem letzten Nietzsche-Zitat enden, das vielleicht zu meiner Erkenntnis passt, dass ich Deine Fragen vielleicht nicht zur Zufriedenheit beantwortet habe: „Zur Humanität eines Meisters gehört, seine Schüler vor sich zu warnen.“ (Morgenröte, 5. Buch).