@pue
Ich will nicht um jeden Preis das letzte Wort behalten und ich kann auch nicht auf jeden Satz eingehen, obwohl ich die meisten nicht akzeptieren kann. Nur Folgendes:
So, nun kann ich die Behauptung streng genommen nicht wiederholen, sagst du. Also bleibt nur die eine alte auf dem Zettel. Die trifft aber nunmehr nicht mehr zu. Sie gilt nicht mehr als wahr. Das ist ein Dilemma, weil nun weder die Behauptung in der Gegenwart der der Vergangenheit entspricht, noch die alte gilt. Dann gilt gar keine.
Eine Behauptung aufzustellen, gemäss der Sprechakttheorie von John Searle, heisst, einen Geltungsanspruch zu erheben. Das wurde dann von den beiden deutschen Philosophen K.-O. Apel und J. Habermas innerhalb ihrer Wahrheitstheorien weiterentwickelt.
Da bei dem Beispielsatz "Kai ist grösser als Irene" die Wahrheitsgeltung der Behauptung von einem Bezug zur Realität zum Zeitpunkt des Sprechakts abhängt, kann dieselbe Behauptung nicht ein Jahr später wiederholt werden. Man müsste dann sagen: "Vor einem Jahr war Kai grösser als Irene". Wenn die erste Behauptung wahr war, ist natürlich die zweite ebenfalls wahr.
Wenn man aber ein Jahr nach der ersten Behauptung sagt: "Kai ist grösser als Irene", dann ist das streng genommen nicht mehr dieselbe Behauptung. Ihr Geltungsanspruch bezieht sich nämlich nicht mehr auf dieselbe Realität wie die erste Behauptung. Ich denke, dass das jeder einsehen kann.
Was auf dem Zettel steht, ist übrigens meiner Ansicht nach überhaupt keine Behauptung, allenfalls ein Satz. Was auf dem Zettel zu sehen ist, ist keine Sprach
handlung, da nicht zu erkennen ist, wer sie vollzogen hat, wann sie gemacht wurde, und auf welche Realität sie sich bezieht. (Es sei denn, ein Taubstummer hält mir diesen Zettel unter die Nase. Dann ist es eine Sprachhandlung und der Zeitpunkt, zu dem der Realitätsbezug hergestellt wird, ist klar).
Wie auch immer, wenn man das Problem der Wiederholung so analysiert, wie ich es oben versucht habe, entsteht keines der Probleme, die du zu sehen scheinst. Die alte Behauptung ist immer noch wahr. Jedenfalls dann, wenn sie als ein Sprechakt verstanden wird, der vor einem Jahr stattfand. Ob die
neue Behauptung, die sich auf die Gegenwart bezieht, wahr ist, muss durch sinnliche Wahrnehmung oder durch eine Messlatte entschieden werden. Wo ist da ein Problem oder ein Dilemma? Ich kann das nicht sehen.
Noch ein Wort zur Klärung des Unterschieds zwischen wissenschaftlicher Wahrheit und Alltagswahrheit. Wir haben uns da anscheinend missverstanden. Es besteht nämlich wirklich ein ganz wichtiger Unterschied.
Wissenschaftliche Theorien beanspruchen nämlich, auch für zukünftige Ereignisse zu gelten. Um ein absichtlich stark simplifizierendes Beispiel zu nennen: Es scheint ein Naturgesetz zu sein, dass reines Wasser in Höhe des Meeresspiegels kocht, wenn es auf 100 Grad Celsius erhitzt wird. Das soll auch für alle zukünftigen Fälle gelten, obwohl wir immer nur begrenzt viele Fälle überprüfen können.
David Hume hat deshalb gemeint, wir könnten überhaupt keine Naturgesetze erkennen, sondern immer nur aus psychologischen Gründen darauf vertrauen, dass zukünftige Tests immer wieder dieselben Ergebnisse haben werden. Hume war eben erkenntnistheoretisch gesehen ein Skeptiker. Aber das nur nebenbei. Heutige Naturwissenschaftler würden Hume das nicht unbedingt abnehmen.
Es bleibt aber das Problem, dass wir in den Naturwissenschaften von begrenzt vielen Fällen (bis jetzt hat Wasser immer bei 100 Grad gekocht) auf potentiell unbegrenzt viele zukünftige Fälle schliessen. Ein solcher sogenannter induktiver Schluss ist aber rein logisch gesehen nicht zulässig. Ich will jetzt nicht weiter ausführen, warum es vielleicht trotzdem guten Sinn macht, auf zukünftige Fälle zu schliessen. Naturwissenschaft wäre jedenfalls ohne solche Schlüsse gar nicht möglich.
Jetzt der Unterschied zu Alltagswahrheiten. Jedenfalls solche, die nicht von begrenzt vielen erlebten Fällen auf zukünftige schliessen.
Bei Wahrnehmungsurteilen - zum Beispiel dass die Tafel, die ich vor mir sehe, schwarz ist - brauche ich keine induktiven Schlüsse zu ziehen. Und insofern gibt es hier einen entscheidenden Unterschied zu wissenschaftlichen Wahrheiten. Man kann sich von der Wahrheit der Behauptung durch Augenschein überzeugen. Bei wissenschaftlichen Theorien geht das nicht. Das war's, was ich gemeint habe.
Noch eins möchte ich sagen:
Erkenntnis entsteht gerade da, wo Widersprüche auftauchen. Die Protonen im Atomkern müssten sich aufgrund der gleichen Polung abstoßen und auseinander fliegen. Also erfinden wir die 'starke Kraft', denn irgend etwas muss die ja zusammen halten. Die ist ausgedacht, aber erst einmal ganz brauchbar
Das Zitat widerspricht meines Erachtens ganz eindeutig deinen früheren Aussagen, dass wir Ideen nicht durch Denken hervorbringen, sondern dass sie einfach so über uns kommen. Das soll dann auch Willensfreiheit widerlegen. Wenn wir eine starke physikalische Kraft "erfinden" wie du sagst und dass das von uns "ausgedacht" ist, dann zeigt das, dass du selbst nicht glaubst, wir hätten gar keine Kontrolle über unsere Gedanken. Bei John Searle finden sich übrigens sehr gute Argumente (finde ich), warum wir überhaupt nicht anders können, als Willensfreiheit anzunehmen, auch wenn wir sie nie beweisen können. Zur Quelle kann ich gerne Angaben machen. Wenn wir wirklich zeigen könnten, dass die Willensfreiheit eine Illusion ist, müssten wir übrigens unser gesamtes juristisches System ändern.
OK. Ich mach besser Schluss. Der Beitrag ist sowieso schon viel zu lang.