@Pue
Hallo Pue (oder Peter, was immer dir lieber ist)
während deiner Pause hatte ich vorgeschlagen, dass wir uns vielleicht anderen Aspekten der Freiheitsidee zuwenden sollten, statt immer weiter über Determinismus vs freier Wille zu debattieren. Aber weil du mich noch mal direkt angesprochen hast, will ich dir antworten.
Mir scheint, dir macht der Gedanke geradezu Angst. Warum? Erst einmal hätten wir die Gewissheit, dass es sich wahrscheinlich genau so weiterleben lässt, wie bisher. Mir gibt das Sicherheit.
Also Angst macht mir der Gedanke nicht im mindesten, denn ich bin überzeugt, dass (1) die Theorie der durchgehenden Determiniertheit alles Geschehens, einschliesslich der Gedanken und der Entscheidungen, die Menschen (vor allem auch Gerichte!) fällen, falsch ist.
(2) dass es unvorstellbar ist, dass die Mehrheit der Menschen in ihrem wirklichen Leben (also nicht dann, wenn sie anfangen ein paar philosophische Gedanken durchzuspielen) ernsthaft so tun könnte, als ob ALLES determiniert ist.
Wie ich schon öfter gesagt habe, ist unser gesamtes Rechtssystem und fast alles übrige persönlich und gesellschaftlich relevante Handeln darauf aufgebaut, dass es einen nicht-determinierten freien Willen gibt. Begriffe wie Wahrheit, Gerechtigkeit und Verantwortung ergeben in einer determinierten Welt einfach keinen Sinn mehr. Ohne solche Begriffe, die es in allen menschlichen Gesellschaften gibt, wäre ein Überleben überhaupt nicht möglich. Wahrheit ist kein Naturvorgang, und schon gar kein determinierter.
Was in den Wissenschaften, aber auch im Alltagsleben, wahr oder falsch ist, kann nicht selbst wieder nur das determinierte Resultat eines Naturvorgangs sein. Dann wäre die Vorstellung, die Erde sei der Mittelpunkt der Welt, genauso determiniert wie die Vorstellung, sie sei ein winziges Staubkorn am Rande einer Galaxie, die bloss eine von Millionen anderen ist. Es gäbe ja dann überhaupt keinen guten Grund, die eine oder die andere Theorie vorzuziehen. Die Idee, dass die Evidenzen, die wir haben, eher für das eine als das andere sprechen, wäre in einem deterministischen Universum ja ebenfalls unsinnig.
Ich muss vielleicht mal wieder auf den Gedanken des performativen Selbstwiderspruchs zurückkommen. Wenn du wirklich glaubst, auch deine Gedanken und Argumente seien nur zu verstehen als das Resultat von Naturvorgängen in deinem Gehirn, dann macht dein eigenes Argumentieren keinen Sinn. Die Überzeugungen, zu denen ICH gekommen bin, sind dann ja auch bloss Resultate der Naturvorgänge in MEINEM Gehirn. Zwischen zwei unabhängig voneinander entstandenen Gehirnzuständen kann es keine DISKUSSION über gute und schlechte GRÜNDE und ARGUMENTE geben. Genausowenig wie zwischen einem Autounfall in Deutschland und einem in Japan. Was ich damit sagen will: du VERHÄLTST dich genau wie jemand, der an freien Willen, Verstand, Wahrheit, Gründe (statt Ursachen), etc. glaubt, MEINST aber aus mir nicht verständlichen Gründen, es ginge alles auch ganz gut, wenn die Welt einschliesslich aller Gedanken determiniert ist.
Es macht übrigens keinerlei Unterschied, ob man annimmt, Ursache und Wirkung seien zeitlich getrennt oder gleichzeitig. Wenn ein Gas erwärmt wird, dehnt es sich aus (oder der Druck erhöht sich, wenn es sich nicht ausdehnen kann). Das geschieht gleichzeitig, also ohne zeitliche Verzögerung.
Andere Kausalketten brauchen Zeit. In beiden Fällen geht es um naturgesetzlich determinierte Ereignisse. Ich bin kein grosser Kenner von Deleuze und seiner Idee von Rhizomen (was ja nur eine Metpher ist), habe aber noch nirgendwo gelesen, dass er irgendwas aufregend Neues zum Verständnis der Wissenschaft beigetragen hätte. Aber ich lasse mich eines anderen belehren, wenn ich gute Argumente sehe.
Das sind nicht mehr die kausalen Ketten, auf denen auch die herkömmliche Philosophie aufbaut, sondern Zustände der Vielfältigkeit, Abläufe, die sich ständig gegenseitig beeinflussen und determinieren
Halte doch bitte Philosophen nicht für dermassen naiv („herkömmliche“ Philosophie). Was du da über Kausalität sagst, ist doch für die Philosophie (und die Wissenschaft) seit mehr als hundert Jahren ein alter Hut.
Gäbe es den freien Willen, dann fühlte ich mich sehr viel unwohler, weil ich nicht wüsste, wozu sich meine Mitmenschen gerade morgen entscheiden
Es ist m. E. genau umgekehrt. Wenn alles Verhalten und Entscheiden ein Naturvorgang ist, und kein Mensch genau einem anderen gleicht, was du ja sicher zugibst, – du also niemals im voraus wissen könntest, was im Gehirn eines anderen an Naturvorgängen vor sich geht -, dann wüsstest du rein gar nichts darüber, wie sich Menschen demnächst entscheiden. Du dürftest es nicht mal „entscheiden“ nennen, denn der Begriff der Entscheidung verliert seinen normalen Sinn, sobald jede Entscheidung ein determinierter Naturvorgang ist.
Am Schluss schreibst du:
Ob das alles determiniert ist, ist im Grunde völlig belanglos
Für mich ist es der Unterschied ums ganze.
Dieter