@Morticia
Zunächst ein paar allgemeine Anmerkungen. Ich habe Zweifel, dass es sinnvoll ist, dass wir unsere Diskussion fortführen. Ich will auch eigentlich nicht das letzte Wort haben.
Eins scheint mir aber wichtig zu sein: Die Tatsache, dass du weiterhin Argumente gegen mich vorbringst, zeigt doch genau, dass mein Punkt zum sogenannten performativen Widerspruch richtig ist und im vorliegenden Fall auf dich zutrifft. Wenn du recht hättest, dass es keine objektiven Standards für Wahrheit und korrektes Argumentieren gibt und geben kann, dann würde doch deine Erwiderung überhaupt keinen Sinn ergeben.
Wenn wir nicht beide an objektive und auch von anderen geteilte Standards appellieren können, was haben wir uns dann zu sagen? Nichts. Wenn es richtig wäre, dass es keine solchen Standards gibt, warum um alles in der Welt sollte ich deinen Beitrag lesen und deine Behauptungen ernst nehmen?? Und das erwartet du doch – und ganz zurecht. Ich könnte doch einfach sagen „Was Morticia für wahr hält, hat mit dem, was ich für wahr halte, überhaupt nichts zu tun“. Das folgt ja aus ihren eigenen Aussagen, jedenfalls was deren semantischen Gehalt angeht.
Im Widerspruch zu diesem Gehalt steht aber die Tatsache, dass sie mit mir argumentiert. Diese sprachliche Performanz des miteinander Argumentierens steht im Widerspruch zum semantischen Gehalt ihrer Aussagen. Daher der Ausdruck „performativer Selbstwiderspruch“. Der Sinn der Sprechhandlung als das Erheben eines Geltungsanspruchs steht im Widerspruch zum Inhalt des Gesagten, der solche Geltung zugleich negiert. Ich benutze jetzt mal Begriffe aus der Sprechakttheorie von Searle und Habermas. (Kann man sicher alles in Wikipedia nachsehen).
Was Sokrates gesagt hat oder nicht ist mir eigentlich, verzeih', wurstegal. Ich weiß, dass ich nichts weiß stimmt für mich genau so, wie ich das schreibe. Denn damit gestehe ich ein, dass es mir unmöglich ist, alles um mich herum auf einen absoluten Wahrheitsgehalt zu überprüfen.
Wer das gesagt hat ist mir im Grund auch egal. Ich bestehe aber darauf, dass dieser Satz widersprüchlich ist. Ich kann’s nur wiederholen: Wer nichts weiss, kann auch nicht wissen, dass er nichts weiss. Das ist einfach eine logische Folgerung, von der ich nicht sehen kann, wie du sie bestreiten könntest. Was du im zweiten Satz sagst, hat mit dem ersten kaum etwas zu tun. Er folgt auch nicht logisch aus dem ersten. Niemand kann alles auf seinen Wahrheitsgehalt überprüfen. Das ist geschenkt.
Um mal beim Ei zu bleiben, dem weichgekochten: Wasser kocht bei 100°C und das Ei muss für einen bestimmten Aggregatzustand eine bestimmte Zeit darin bleiben, im kochenden Wasser. Klar. Aber stimmen die Messgeräte Uhr und Thermometer? War die erste Versuchsanordnung zum Thema "Ei weich kochen" absolut fehlerfrei? Ist der Aufbau jetzt und hier unbestechlich genau? Wirklich?
Das widerlegt keinesfalls, dass wir unzählige Überzeugungen für objektiv wahr halten. Dass es in jedem Einzelfall nie ganz ausgeschlossen ist, dass etwas schiefgegangen ist, besagt überhaupt nichts. Ich habe auch immer betont, dass ein Unterschied besteht zwischen dem Sinn des Begriffs
objektive Wahrheit und unserem Vermögen, in einzelnen Anwendungsfällen, zu prüfen, ob unsere Annahmen richtig waren.
Ich sage allerdings, dass der Begriff Wahrheit, so wie wir ihn normalerweise verstehen, immer MEHR bedeutet als "meine, deine, eure Wahrheit"
Damit setzt Du aber voraus, dass es eine absolute Wahrheit und eine absolute Gerechtigkeit gibt. Auch in diesem Fall brauchen wir dann ja nicht mehr weiter zu diskutieren.
Erstens: von absoluter Gerechtigkeit habe ich nirgends gesprochen. Zweitens: Es ist genau umgekehrt. Wenn es keine absolute Wahrheit geben kann, sondern nur individuelles Fürwahrhalten wie du es zu propagieren scheinst, dann ist jede Argumentation sinnlos. Warum, habe ich oben schon ausgeführt. Wir verfügen ja nicht schon über viele unbezweifelbare Wahrheiten. Alle Wissenschaften wären sinnlos, wenn wir schon alles mit Gewissheit wüssten. Deshalb ist Argumentation weierhin notwendig und sinnvoll.
Eine philosophisch bekannte und NICHT uninteressante Wahrheit ist übrigens Decartes‘
Cogito, ergo sum. Dass es mich als denkendes (und zweifelndes) Subjekt gibt, wenn ich versuche alles andere in der Welt zu bezweifeln, ist eine absolute (unbezweifelbare) Wahrheit. Oder siehst du das anders? Würde mich interessieren.
Nur, weil ich weiß, dass meine Sicht auf die Welt ganz sicher Fehler enthält, kann ich doch nicht das Handeln einstellen.
Das war nicht mein Punkt. Nur weil du weisst, dass deine Sicht in unzähligen Fällen objektiv richtig ist und von den meisten anderen in deiner Kultur geteilt wird, kannst du es riskieren, alle möglichen Handlungen zu vollziehen. Zum Beispiel ein Ei aus dem Kühlschrank zu holen, weil du weisst, dass es sich nicht übernacht in eine Stahlkugel oder sonstwas verwandeln kann. Eine anerkannte wissenschaftlich begründbare Wahrheit.
Die Wissenschaft ist auch nur eine Brille unter vielen. Wenn ich mir ansehe, mit wievielen wissenschaftlichen Fakten ich aufgewachsen bin, die heute revidiert werden, weil der Versuchsaufbau fehlerhaft war, dann weiß ich, dass auch Wissenschaft nur auf Glauben basiert; der Wissenschaftler glaubt, dass der Versuchsaufbau der geeignete ist, die Frage zu klären, die ihn umtreibt. Mit Absolutheit wissen kann er's nicht.
Die Wissenschaft ist nun wirklich nicht bloss eine Brille unter vielen. Nichts hat die Welt, in der wir leben, so verändert wie die Wissenschaft und die darauf aufbauende Technologie. Und die technologische Anwendung ist nur möglich, weil der Wahrheitsgehalt wissenschaftlicher Theorien eben sehr viel höher ist als der von Aberglauben. Würdest du einen Schamanen konsultieren, wenn dein Kind eine gefährliche Infektionskrankheit hat? Ich hoffe nicht. Aber wenn die Medizin in diesem Fall auch nur eine Brille ist wie jede andere, warum nicht den Schamanen fragen?
Dass Wissenschaft nicht beanspruchen kann, die absolute Wahrheit zu kennen, habe ich bereits selbst betont.