Im Eröffnungstext wird Potentialität angesprochen. Das ist für mich eng verbunden mit Virtualität, also mit dem unüberschaubar großen Pool der Möglichkeiten. Wenn wir einen Satz aussprechen, entscheiden wir uns für eine der Virtualitäten und gegen n andere. Jeder kennt die unvergleichliche Ausdrucksweise derer, die er seit langem kennt. Und jeder kann seine eigene Ausdrucksweise ansehen und feststellen, welche Besonderheiten und welche „Gestalt“ sie hat. Gestalt wäre hier das, was wir zusammenfügen unter anderem aus den Äußerungen eines Gegenübers.
Wir nehmen jemanden wahr aufgrund seiner Gestalt, die nicht er selbst formt, sondern wir; auf der Grundlage und vor dem Hintergrund, der zu uns gehört und nicht zu ihm. Da sehe ich einen zentralen Punkt der Diskussion: das Reale, das wir wahrzunehmen meinen, formen wir aufgrund unserer eigenen Art, die Erscheinungen zu deuten. Wir brauchen eine Gestalt, die im Ganzen erkennbar ist, doch wir haben immer nur einen kleinen Ausschnitt dessen vor uns, was der andere in seiner Gesamtheit bedeutet. Im Netzkontakt eine Hand voll Bildchen und viel Text. Wir bauen einen Menschen zusammen mit ein paar kleinen Details, die er uns bietet, und den großen Rest füllen wir selbst aus.
Wir sehen also, daß wir mit einem erheblichen Eigenanteil die Dinge zusammenbasteln, die wir für bare Münze nehmen. Zugegeben; oft genug scheinen die Ergebnisse mit der „Realität“ übereinzustimmen, aber oft genug prüfen wir auch gar nicht, ob es sich tatsächlich so verhält. Das ist der Grundgedanke der radikalen Kontruktivisten mit anderen Worten.
Die Träume bilden nun ihren eigenen, riesigen Debattierraum mit ihren unüberschaubaren Unwägbarkeiten, aber eines ist klar: Die Träume sind ein Aspekt des Menschen, der mit einiger Phantasie und etwas Wissen als der Beweis für das Argument gelten kann, daß wir konstruieren und alles, was uns als Tatsache erscheint, nichts als eine Bedeutung ist, die wir erfunden haben. Man muss natürlich korrekterweise sagen, daß wir sie entdeckt haben, denn unsere Bedeutungen sind, so zwingend sie erscheinen mögen, aller Wahrscheinlichkeit nach eine von vielen möglichen Welten. Das soll nicht heißen, daß es keine Wahrheit gäbe. Daß wir unsere Wahrheit selbst machen, heißt nicht, daß sie unbrauchbar wäre. Aber wir gewinnen sicher viel, wenn wir einsehen, daß wir sie selbst gemacht haben und selbst machen.