Lob des Augenblicks
Nachstehenden lesens- und nachdenkenswerten Artikel aus der FAZ habe ich in meinem Kunst- und Kulturthread bei den Flintenweibern gepostet......Vielleicht findet er auch hier interessierte Leserinnen/Leser...
LG, Odette
Lob des Augenblicks - Kolumne aus FAZ vom 27.01.12
Auch das smarteste Telefon kann nicht mehr, als unseren Alltag planen und organisieren. Erleben müssen wir ihn schon selbst - ohne digitale Mätzchen.
Von Stefan Schulz
Dinge finden nicht statt, wenn sie sich nicht vorher bequem mit dem Telefon planen lassen: Erleben ist im Zeitalter der Smartphones nur noch schwer möglich
Es waren zwei starke Sätze, die Peter Sloterdijk zum Ende eines Fernsehinterviews im Schweizer Fernsehen sagte. Mehr als eine Stunde war das Gespräch mit dem Philosophen gelaufen. Als die Kamera beinahe schon abblenden wollte, wurde er gefragt, wie man wenigstens ein paar der vielen philosophischen Ideen in den Alltag retten könne. Und ganz salopp sagte er: „Man darf den Begriff ,Alltag’ nicht in sich einlassen. Sobald man denkt, heute ist Alltag, hat man mit dem Angebot des Moments keinen guten Umgang.“ Wir kennen sein Argument: wenn schon Routine und Wiederholung, dann wenigstens als bewusste Übung. Aber wenn wir es doch kennen, warum ignorieren wir es?
Man darf Peter Sloterdijk widersprechen. Tut man es aber, ehrlich sich selbst gegenüber, nicht, dann erkennt man: Der Alltag hat gewonnen und der Augenblick verloren. Wir sind nicht mehr bereit, uns auf Momente einzulassen, und wir haben es verlernt, sie zu erleben. Wir sind so gut darin, unseren Alltag zu meistern, dass wir die Angebote der Augenblicke missachten.
Es ist nicht mehr der Anrufer, der uns stört
Begonnen hat es wahrscheinlich mit dem Einzug des Telefons in den Alltag. Telefongespräche beginnen einfach, sie kündigen sich nicht an, und sie zerstören, selbst, wenn sie unbeantwortet bleiben, seit Anbeginn Augenblicke; sie reißen aus Gesprächen mit anderen und aus Gedanken mit sich selbst; sie passieren einfach, rücksichtslos und fordernd. Die zur absurden Kulturübung gewordene Frage, ob man mit einem Anruf störe, versteckt sich zwar im Kostüm der höflichen Antizipation; doch in ihr kann kaum eine Achtung des Augenblicks stecken. Die Höflichkeit bleibt allein Aufgabe des Angerufenen: Nein, natürlich störe der Anrufer nicht, sagt man, weil man denkt: Jetzt ist es doch eh zu spät.
So schlimm war es 1990. Heute ist es katastrophal. Mittlerweile begleiten uns die Telefone überall hin. Sie klingeln, blinken und vibrieren unentwegt. Sie lassen uns nicht mehr in Ruhe. Erstaunlicherweise ist es aber nicht mehr der Anrufer, der uns stört. Nach Jahrzehnten des gemeinsamen Leidens wird es inzwischen durchaus akzeptiert, einen Anrufer zu ignorieren, weil die Mailbox einspringt oder das Registrieren des Anrufversuchs oft schon reicht. Auch das Ausweichen in die Textnachricht ist heute bequem.
Es ist alles ausgereizt
Aber den Augenblick rettet das nicht - im Gegenteil: Die modernen Telefone zerstören ihn noch ganz anders. Inzwischen sind wir es selbst, die die Eigenrechte der Situation einfach übergehen, ohne auch nur einen Gedanken an die Potentiale des Moments zu mobilisieren. Mitdenken ist kaum mehr notwendig, weil alles schon geplant wurde. Miterleben ist nur noch schwer möglich, weil wir, an der Planung orientiert, in Gedanken schon längst der aktuellen Situation enteilt sind. Welches ist das optimale Ziel, und wie verläuft die perfekte Route dorthin? Wer auf diese Fragen nicht mindestens eine konkrete Antwort hat, bewegt sich kaum noch. Dinge finden nicht statt, wenn sie sich nicht vorher bequem mit dem Telefon planen lassen. „Auf gut Glück!“ ist ironischerweise nur noch ein Button auf der Google-Suchseite, den niemand benutzt.
Wir fahren nicht mehr in fremde Städte, ohne sie uns vorher im Luftbild anzusehen. Wenn wir eine Adresse kennen, sehen wir uns schon am heimischen Computer an, wie es dort aussieht. Und wenn wir mit dem Bus fahren, wissen wir schon vor der Abfahrt, wann er wieder zurückfährt. Wollen wir uns überraschen lassen, dann gehen wir „shoppen“. Überall sonst bedeuten Überraschungen Enttäuschungen. Weil die Realität, wenn sie von der Planung abweicht, nur Probleme im Ablauf des Alltags verursacht, fürchten wir sie. Die Perfektion eines mit dem Telefon zusammengeklickten Plans kann durch die Wirklichkeit nicht mehr übertroffen werden. Es ist alles ausgereizt.
Konsultierung einer Maschine statt Kommunikation
Wir vertrauen der Idee, dass wir fürs Gelingen des Alltags nur alles wissen müssen, sammeln dieses Wissen im Vorfeld und geben unsere Sensibilität für Augenblicke verloren. Wozu sollten wir sie noch brauchen? Unsere Telefone und das Internetweltwissen geben den Rahmen der Möglichkeiten vor, die Aktualität des Augenblicks spielt für die Technologie keine Rolle, für uns also auch nicht. Die Fähigkeit zur Improvisation verkümmert, während Google Maps in der Hosentasche vibriert, um uns zu sagen, dass wir demnächst abbiegen sollen. Aber was wollen wir heute noch mehr, als einen Weg bewältigen, um ein Ziel zu erreichen? So wurden alle Alltagsprobleme Planungsprobleme, und sie lassen sich durch Technologieeinsatz lösen.
Dieser Glaube beginnt schon, wenn E-Mails geschrieben und gelesen werden. Entgegen der gängigen Auffassung ist das Lesen einer E-Mail viel weniger Kommunikation mit Menschen als Konsultierung einer Maschine. Während wir eine E-Mail lesen, müssen wir nicht darüber nachdenken, wie wir die Situation erfolgreich meistern. Der Autor der Mail ist nicht anwesend. Es sind keine Höflichkeit, keine Dankbarkeit, kein Taktgefühl und kein Humor notwendig. Die Maschine wird dafür immer unempfänglich bleiben. Im Umgang mit ihr besteht nie das Risiko des Scheiterns einer Situation. Es besteht aber auch nicht die Chance, das irgendetwas anderes, noch Undenkbares, vielleicht Konstruktives geschieht.
Wie die Japaner handhabt man es heute überall
Die Orientierung an der Maschine verschafft Sicherheit, mit der sich vieles, nicht aber das Elementare gewinnen lässt. Die Soziologen Eva Illouz und Jean-Claude Kaufmann beschreiben es am Beispiel der Liebe in Zeiten des Internets: Wir tauschen Intuition und Gefühl gegen Rationalität und Kalkül. Wir lassen uns nicht mehr unbefangen auf die Momente ein, in denen Liebe ihren Ursprung findet. Es gibt keine Blind Dates mehr. Spätestens nach dem Treffen gerät der persönliche Eindruck in Mitleidenschaft einer neugierigen Internetrecherche, die für sich bleibt. Das gemeinsame Erlebnis wird dabei eine verblassende Erinnerung.
Und dann passiert er trotz allem, der Augenblick. Doch statt ihn einfach zu erleben, zücken wir unser Telefon und versuchen ihn zu dokumentieren. Es ist noch nicht lange her, da machte man sich noch über japanische Reisegruppen lustig. Sie ziehen noch immer durch Europa, um nichts anderes zu tun, als zu fotografieren. Sie erleben ihre Reisen gar nicht, sondern lassen sie sich später von ihrer Technologie erzählen. So handhabt man es heute überall.
Mehr als nur dabei sein
Für viel Geld kauft man sich ein Konzertticket seiner Lieblingsband, um dann vor Ort eine möglichst gute Dokumentation des eigenen Dabeiseins anzufertigen. In jeder in die Höhe gereckten Hand steckt heute ein Telefon. Die Augen werden nicht mehr auf die Bühnen gerichtet, sondern auf die Displays. Man hat die falsche Angst, den richtigen Augenblick zu verpassen. Und man belügt dabei nicht nur sich, sondern auch alle anderen. Die erfolgreichsten Apps für die modernen Telefone sind die, die uns anbieten, den Augenblick unseres Erlebens zu archivieren und der Welt mitzuteilen. „Instagr.am“ zum Beispiel ist eine kleine Software, die aus durchschnittlichen Schnappschüssen eindrucksvolle Bilder zaubert und sie der Welt präsentiert. Die mit ihr entstehenden Bilder sind oft kleine Kunstwerke, sie bilden aber nichts Wirkliches ab, sie halten keine Augenblicke fest, sie helfen nicht beim Erinnern - sie stehen nur für sich. Sie kreieren einen ganz eigenen Gehalt.
Bei dieser Software fällt es auf, doch im Grunde ist dies das Schicksal jedes Versuchs, mit Hilfe von Technologie einen Augenblick zu archivieren. Das Besondere am Augenblick ist seine Flüchtigkeit, und die lässt sich nicht festhalten. Wer sein Erleben eintauscht gegen das Anfertigen einer Erzählung, verpasst sie. Erleben ist mehr als nur dabei sein. Es erfordert Bewusstsein. Man muss sich entscheiden, für eine eigene Erinnerung oder eine fremde Erzählung.
Kein guter Umgang mit dem Angebot des Moments
Das Facebook-Zeitalter macht es schwer, diese Entscheidung überhaupt noch als solche zu erkennen. Es gilt als viel zu selbstverständlich, Augenblicke zu dokumentieren und in einen „Life-Stream“ einzuspeisen. Wir möchten unseren Liebsten mitteilen, wo wir sind und was wir tun. Wir möchten sie wissen lassen, dass alles in Ordnung ist und dass wir Spaß haben. Für diese Mitteilungen suchen wir uns gerade die schönen Momente aus und verpassen sie dadurch.
Facebook hat darauf schon reagiert. Mit dem neuen Service „Timeline“ soll der Verlust des Augenblicks kompensiert werden. Wenn wir unser Leben nur fleißig dokumentieren, werden sie die Erzählung nachliefern. Niemals wieder soll ein Augenblick verlorengehen - das ist die verheißungsvolle und trügerische Devise aller Beteiligten. Dreißig Stunden Videomaterial werden heute pro Minute auf Youtube geladen, 300.000 Statusmeldungen werden pro Minute auf Facebook geschrieben und nur ein paar weniger Tweets. Das zeugt von keinem guten Umgang mit dem Angebot des Moments.
Vieles von dem, was wir heute tun, beruht auf den Potentialen der modernen Technologien. Doch es geht nicht nur darum, was alles sein kann, sondern auch darum, was ist.