Gehirn Forschung
Ja es ist viel herausgefunden worden....
Aber die Bauchhirn bleibt das interresant Ergebnis:
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Mögen die Eingeweide auch hässlich erscheinen und von Wissenschaft und Gesellschaft tabuisiert werden - sie sind umhüllt von mehr als 100 Millionen Nervenzellen: mehr Neuronen, als im gesamten Rückenmark zu finden sind. Dieses "zweite Gehirn", so haben Neurowissenschaftler herausgefunden, ist quasi ein Abbild des Kopfhirns - Zelltypen, Wirkstoffe und Rezeptoren sind exakt gleich.
Was aber macht dieses zweite Gehirn? Denkt und fühlt es, erinnert es sich?
Neueste Forschungen zeigen, dass psychische Prozesse und das Verdauungssystem weitaus inniger gekoppelt sein könnten, als man bisher gedacht habe. Das Bauchhirn spielt eine große Rolle bei Freud und Leid, doch die wenigsten wüssten überhaupt, dass es existiert, sagt der 62-jährige Gershon, den seine jüngeren Kollegen als "Entdecker" bezeichnen.
Gershon winkt ab. Nein, er habe jenes "zweite Gehirn" nicht entdeckt. Er habe es mit der Hilfe vieler anderer höchstens wiederentdeckt. Denn schließlich habe seine Zunft, die Neurogastroentrologie, eine mehr als 100-jährige Geschichte.
Das erste Kapitel spielt schon Mitte des 19. Jahrhunderts und handelt von dem deutschen Nervenarzt Leopold Auerbach. Als er ein Stückchen Gedärm zerlegte und durch ein einfaches Mikroskop genauer betrachtete, sah er etwas, das ihn stutzig machte: In die Darmwand eingebettet sind zwei Schichten eines Netzwerkes von Nervenzellen und -strängen, hauchdünn und zwischen zwei Muskellagen versteckt.
Auerbach hatte damals keine Ahnung, dass er beim Blick durchs Mikroskop sozusagen den Herrscher über ein Binnen-Universum des Menschen aufgespürt hatte: die Schaltzentrale der Verdauungsmaschinerie, die nicht nur derbe Größen wie Nährstoffzusammensetzung, Salzgehalt und Wasseranteil analysiert und Absorptions- und Ausscheidungsmechanismen koordiniert. Sie kontrolliert auch die raffinierten Gleichgewichte von hemmenden und erregenden Nervenbotenstoffen, stimulierenden Hormonen und schützenden Sekreten.
Im Laufe eines 75-jährigen Lebens wandern mehr als 30 Tonnen Nahrung und 50 000 Liter Flüssigkeit durch das Gedärm. "Das Herz ist dagegen eine primitive Pumpe", erklärt Gershon. Das Bauchhirn steuere den Durchsatz "hochintelligent": Millionen von chemischen Substanzen müssen analysiert, Millionen von Giften und Gefahren gemeistert werden.
Die Schaltzentrale im Bauch organisiert den Kampf gegen schlimmste Invasoren: Jene Mikroorganismen, die quasi symbiontisch mit uns zusammenleben und den so genannten Intestinaltrakt in millionenfacher Ausführung besiedeln, dürfen ebenso wenig in das Innere des Organismus gelangen wie jene, die wir jeden Tag in Unmengen schlucken.
Der Darm: das größte Immunorgan im Körper, in dem mehr als 70 Prozent aller Abwehrzellen sitzen. Sein Inhalt: ein warmes Gebräu aus Dung, Schleim und fermentierenden Bazillen - ein gefährliches Bakterien- und Pilzparadies. Wir werden von rund 500 Spezies potenziell tödlicher Lebewesen bewohnt. Die Hälfte des Kots besteht aus abgestorbenen Bakterien. Fern gehalten durch die Darmwände, der effektivsten Verteidigungslinie des Organismus. Eine große Zahl von Abwehrzellen ist dort direkt mit dem Bauchhirn verbunden. Sie lernen, zwischen gut und böse zu unterscheiden. Die Information wird gespeichert und bei Bedarf abgerufen.
Vieles läuft völlig autonom vom Kopf ab. Gelangen allerdings Gifte in den Körper, "fühlt" das Darmhirn die Gefahr zuerst und schickt sofort Alarmsignale ins Oberstübchen. Denn in Notsituationen soll das Gehirn im Schädel bereit sein, der Mensch sich seines Bauches bewusst werden und sich nach Plan verhalten -Erbrechen, Krämpfe, Entleerung.
Die englischen Mediziner William Bayliss and Ernest Starling hatten erst Jahrzehnte nach Auerbachs Entdeckung von den Arbeiten des deutschen Kollegen erfahren und wollten es genauer wissen. In ihrem physiologischen Labor in London öffneten sie den unteren Leib eines betäubten Hundes und holten eine von dessen pulsierenden Darmschleifen ans Tageslicht. Dieses Stück Eingeweide - mit dem Hund noch verbunden - zeigte ein stereotypes Verhalten: Wenn die Forscher auf das Isolat Druck ausübten, antwortete die Schleife mit wellenartigen Muskelbewegungen, die den Inhalt in eine Richtung weiter schoben - immer von oral nach anal. Die beiden nannten das Phänomen: "Das Gesetz des Darms".
Damit hatten sie den "peristaltischen Reflex" entdeckt - eine weitere überlebensnotwendige Funktion des Verdauungstraktes. Die hochkomplexe Transportmaschine wird, wie Wissenschaftler heute wissen, ebenfalls vom Bauchhirn synchronisiert und reagiert auf feinste Druckreize: Dehnt ein Speiseklumpen ein Darmsegment, werden "mechanosensitive" Schleimhautzellen aktiviert. Die schütten Neurotransmitter aus, Botensubstanzen, die wiederum andere Nervenzellen, die "submucosalen sensorischen Neuronen" im Inneren der Darmwand, stimulieren. Diese schicken schließlich über vielerlei Botenstoffe hemmende und aktivierende Signale an Muskelzellen, die dann den wellenartigen Reflex ausführen.
Um den Transport über die große Strecke zu ermöglichen, werden mehrere hemmende und aktivierende Schaltkreise - nur wenige Millimeter lang und wie die Perlen einer Kette aufgereiht - nacheinander angeregt. Das "kleine Hirn" ist verantwortlich für ein hochsensibles, fein austariertes Gleichgewicht: Wird das hemmende System zu stark, entspannt der Darm so sehr, dass er gelähmt wird; chronische Verstopfung ist die Folge. Ist dagegen das "erregende System" zu stark, erfolgt ein beschleunigter Transport. Durchfall.
"Das Darmhirn fühlt", sagt der Hannoveraner Michael Schemann, der die "Neurotransmitter-Cocktails" im Verdauungstrakt erforscht. Er will wissen: Wer spricht hier mit wem? Ist bei Kranken die Kommunikation gestört? Er möchte den "Code" des peristaltischen Reflexes knacken, um etwa bei Verstopfung oder auch "Darm-Infarkten" besser eingreifen zu können.
Auch schon seine Kollegen Bayliss und Starling wollten in ihrem Londoner Labor ergründen, woher die Signale für die Bewegung kamen. Und sie hatten eine Ahnung: Um ihr nachzugehen, und beeindruckt von dem Phänomen des sich vor ihren Augen schlängelnden Eingeweides, schnitten sie alle Nervenverbindungen zu anderen Organen und zum zentralen Nervensystem des Hundes ab. Keine direkte Information aus dem Gehirn oder Rückenmark konnte jetzt mehr die isolierte Schlinge erreichen.
Doch als die beiden Forscher auf das Eingeweide drückten, reagierte es mit der absteigende Welle von Kontraktion und Relaxation. Wenn also dafür Nerven von außen nicht notwendig waren, schlossen die Wissenschaftler, dann mussten Nerven innen diese Arbeit erledigen. Sie fügten dem "Gesetz des Darms" einen "lokalen nervösen Mechanismus" hinzu.
Eigentlich eine Sensation, war doch für damalige Wissenschaftler das Gehirn der uneingeschränkte König über den gesamten Körper. Bayliss und Starling konnten noch nicht wissen, was ihre Kollegen erst viel später herausfanden: Je tiefer im Verdauungstrakt, umso schwächer die Herrschaft des Kopfhirns. Mund, Teile der Speiseröhre und Magen lassen sich temporär noch etwas von oben sagen. Doch hinter dem Magenausgang übernimmt ein anderes Organ die Regie: Was wann wo dort passiert, entscheidet das Bauchhirn. Erst am allerletzten Ende, am Rektum und Anus, regiert das menschliche Gehirn mit bewusster Steuerung wieder mit.
Das Darmhirn hat also Macht: Es kann die Daten seiner Sensoren selbst generieren und verarbeiten, und es kontrolliert einen Set von Reaktionen. Es gibt den Nachbarorganen Anweisungen, koordiniert die Infektabwehr und die Muskelbewegung, es muss schnell entscheiden und gespeichertes Wissen abrufen. Es ist funktionell organisiert, arbeitet mit Kreisläufen. Und es ist in der Lage, unterschiedliche Zustände zu registrieren und darauf zu reagieren. Das zweite Gehirn hat alles, was ein integratives Nervensystem braucht. "Ja", sagt Schemann, "man kann sagen, das Darmhirn denkt."
Sein Kollege Gershon redet von neuen Hoffnungen für viele kranke Menschen. "Es ist so verlockend", sagt er und meint damit die Entschlüsselung der innigen Kommunikation zwischen den beiden Gehirnen. Indizien für eine Verbundenheit von Bauch und Kopf gebe es genug. "Da sprechen zwei die gleiche Sprache."
Was dem Hirn geschieht, bleibt dem Bauch nicht verborgen. Bei Alzheimer- und Parkinson-Patienten findet sich häufig der gleiche Typ von Gewebeschäden im Kopf-wie im peripheren Hirn. Auch bei BSE, dem "Rinderwahn", ist der Darm extrem befallen. Hier sehen Forscher eine Möglichkeit zu besseren Frühdiagnosen.