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- Ach, Gott, ja... Man nimmt, was man kriegt...
Im Telefon krachte es, als wäre es herunter gefallen.
• Hä? drang eine kehlige Frage durch.
• Ich sagte, man nimmt was man kriegt. Oder?
Das Krachen wiederholte sich. Consuelo trieb ihre Fußkante zwischen die beiden Matratzen und richtete sich etwas auf, in ihrem Bett. Den Hörer drückte sie näher ans Ohr.
• Spinnst du? Was soll´n das jetzt?
Zwischen den Matratzen ging es dem Fuß gut. Er wurde gehalten und sanft gepresst.
Sie bohrte sich im Spalt zurecht und begann auch die andere Sohle hinein zu pressen. Was wollte Schwesterherz eigentlich nun? Sie hätte nicht anrufen sollen, ihr Gefühl hatte es nicht anempfohlen, nun hatte sie keine Lust solche Fragen zu beantworten.
• Ich glaub´, du spinnst.
Ich fühle mich in Frieden, dachte sie. Mir fehlt es an nichts. Also kommt alles in eine Fülle hinein und ist umso ausreichender. Oder befriedigend? Welche Note vergibt man an das Genügen?
-Sehr gut so, gab sie zur Antwort.
• Ist es das, was du willst?
• ...
• Ich meine, willst du Pausenfüller sein? Du bist doch Pausenfüller, der kleine Snack zwischen-
• Ohgott!
• ... zwischendurch. Ist es das, was du willst?
• ...
• Bitte beantworte mir das, ist es DAS?
An der fragenden Stimme schien ein Regler dranzuhängen. Je lauter sie wurde, desto mehr pressten die Waden ins Bett hinein. Aber ein Blick zum Fenster genügte. Die Abendsonne war am Niedersinken und sah eben ins Zimmer hinein. Alles erglomm in tiefem Orange, so wie dann, wenn der Himmel drumherum bewölkt und violett ist und der Wald in der Nähe begann zu schweigen. Consuelo musste lächeln. Wieder war es da, das Genug. Ein feiner Geschmack haftete an der surrealen Färbung, das Genug roch nach Abend und nach Bettlaken. Sie wurde unversehens milde.
• Das will ich, sagte sie leise.
...
Das Telefon knackte nicht. Die Stille erlaubte den Farben aufzuzüngeln, sie malten die ganze Decke an. Das will ich, hatte sie gesagt, und es klang ein wenig wie ein Hochzeitsversprechen. Es klang nach Sein, in sich selbst und dem Orange. Je mehr sie nachsann, desto wirbelnder wurde das Lecken der Lichter im Zimmer und desto behaglicher wurde ihr selbst. Sie wechselte den Hörer ans andere Ohr und gluchste hinein.
Setzte sich auf und drehte sich zur Seite und nahm einen Stift und ein Heft vom Nachttisch und legte sie auf ihren Schoß. Klappte das Heft auf und schraubte den Federhalter auf. Ein langer Tuschestrich von spielerischer Zuspitzung teilte das Blatt in zwei ungleiche Hälften.
Sie sah hin, und hielt inne. Auch dieser eine Strich schien wieder genug zu sein. Das Blatt schien gesättigt worden zu sein, es schwieg. Und am anderen Ende der Leitung schwieg es auch immer noch.
Dann nicht mehr.
• Okay. Hm. Ja, wenn das so ist. Dann sage ich nichts mehr. Dann machst du das so weiter. Dann ist das gut so.
• Eben.
Irgendein Kobold muss es gewesen sein, der da die Taste drückte, aber plötzlich war die Leitung tot. Sie bedauerte es nicht, und gab auch den Gedanken auf, nun eine Message nachzuschicken, die da etwas von Netzproblem gesagt hätte. Sie legte den Hörer beiseite und brachte in der Mitte der oberen Hälfte ihres Blattes einen kleinen Kreis an, in der unteren kleineren, einen wasserweichen Strich. Dann kam auch das Heft auf den Nachttisch.
Das Genug hatte den Raum verschluckt. Nun haftete es dunkel und honigweich an den Tapeten und auch das Zimmer roch nach Wabe. Es roch nach eckigrundem, leuchtendem Wachs. Das Laken war warm und ihr Körper lag quer über dem Bett, bevor sie sich einrollte. Sie machte sich rund, wie eine Muschel, und das Genug rann die Wände entlang wie Met, wie stolzer Rausch. Sie musste grinsen, als sie dahinterkam, dass ihre Empfindungen etwas Abweichendes hatten, etwas Robustes, Sattes. Wie das Orange, verdichteten sie sich zu Lichtklumpen. Die Idee, an der eigenen Genügsamkeit, dem Hinnehmen von allem Vorhandenen einen Augenblick teilzuhaben war selbst wiederum erfüllend.
Allmählich erkannte sie, dass sie aus unerfindlichen Gründen eben einen spontanen Glücksanfall erlitten hatte. Sie war aus sich selbst high geworden, und war auf dieser Farbe davon geritten, während ihre Schwester in der Welt geblieben war.
Es war ihr gelungen davon zu reiten, sich dem hämmerndem Programm der Vorwurfsammen zu entziehen. Etwas in ihr hatte die Taste gedrückt, und der Vorgang der Wahl hatte sie derart angetriggert, dass sie davon high geworden war.
Sie drehte sich wieder auf den Rücken.
In allen Einzelheiten wusste sie, was die Schwester niemals deutlich gesagt, aber sehr wohl vermittelt hätte. Sie hätte den Tonfall auch jederzeit imitieren können. Dieses halb tragische, halb scharf diagnostische Zisellieren an der Unglückswunde: du bist ein Pausenfüller, dir steht Besseres zu, du gibst dich mit Geringem zufrieden, du machst dich klein, du hast mehr verdient, dir steht das Große zu...
Sie hörte diese Worte, aber das Genug hatte dafür gesorgt, dass die Aussagen stimmlos wurden. Sie waren erloschen. An keinem blieb ihr Herz stehen. Es war vorbei.
Nun drehte sie sich wieder auf die Seite. Das Violett hatte mit dem Orange ein irdenes Umbra gezeugt und draußen roch es nach Schatten. Nichts riss, nichts drohte, alles schwieg. Hinter den Häusern, dort, wo der gigantische Umriss des Berges sich bereits ausgebreitet hatte, dort musste das Genug geboren worden sein. Das Schattige.
Dann war es zu ihr ins Zimmer gekrochen und hatte auch sie befruchtet, eine gütige warme Dunkelheit zwischen ihren Schenkeln. Sie konnte nicht erinnern, dachte sie, wie Verlangen sich anfühlt. Obwohl sie wusste, dass das Highsein ihren Körper auch erreicht hatte.
Sie jauchzte voller Dankbarkeit und wieder waren diese unwillkürlichen Tränen da. Diese vollkommene Leere, die unerschöpfliche Unersättlichkeit, sie waren kaum auszuhalten. Das Leben pochte in ihrem Schädel wie Fernweh. Sie las die Inschriften, die wie auf einem unsichtbaren Band hinter ihren Augen sich abspulten: du bist die Liason eines Taxifahrers, der seine Ehe rettet und die Verblichene eines dubiosen Händlers und die Seiltänzerin eines verstockten Yogi, der in einer Almhütte wohnt. Du bist Consuelo, die Germanistik promovierte, in Las Vegas heiratete und in London geschieden wurde und du bringst es nur dazu, dein Geld zu verschenken und deinen Leib auch.
Sie las, und alles erschien so entfernt, als sei es im Morse-Alphabet geschrieben worden: sie las den Code mehr als die Schrift. Sie spürte ihr Alter wie einen Schutzpanzer an ihrem Körper, wie eine zweite Haut, die am Wachsen war. Als das Umbra nach Punkten gewann und der Abend das Dörfchen, das Haus, das Zimmer, das Laken und ihre Augen erreichte, bog sie sich noch einmal fest um sich, das Laken über die nackte Haut der Hüften ziehend. Einem Frösteln vorzubeugen, das lehrt die Zeit. Sie lehrt, zu nehmen, was man bekommt, weil das, was man bekommt, das ist, was man verarbeiten kann. Man kann nichts verarbeiten, was man nicht hat. Und was man hat, muss genügen. Deshalb war das Genügen heute abend zu Besuch gekommen.
Das köstliche Schmiegen von "es ist gut". Ihr einziger Gedanke war noch "es ist gut" und sie lachte über sich selbst, in diesem leisen Rausch. Aber der Rausch wich nicht weg, er blieb den ganzen Abend noch an ihrer Seite, wärmte sie durch die Nacht und lag bei ihr, ein wacher Liebhaber.
In der Frühe, als sie aus der Dusche herauskam, entdeckte sie, dass sie noch einen Satz geschieben hatte. Auf der Linie, die beide Blatthälften trennte, klein, aber in Majuskeln gemalt: DANKE
Sie grinste, schob das Heft vom Bett und öffnete den Schrank, hätte weinen können vor Lebenslust. Der Morgen fraß sich hinein, er biss in das Kommende mit ehrlichem Hunger. Das rosa oder das weiße Kleid? Und welcher Hut?
Ich will die Geliebte von Allem sein, sang sie, während sie ihre Seidenstrümpfe hochzog. Ich bin die Geliebte des Windes. Mir fehlt es an nichts---
der Schuh umschlang ihre Sohle so lüstern, wie es gestern das Bett getan hatte----
ich bin die Geliebte von Umbra, das Genug ist mein Gatte und in mir ist nichts als Licht.
Sie musste laut lachen. Das Blau im Zimmer verneigte sich vor dem Tag. Im neuen Licht erschien der gestrige Abend wie ein Traum.
Heute würde es Spiegelei zum Frühstück geben. Und Toast.
Und das Genug würde nach Hause gehen.
Und sie würden den ganzen Tag im Gras draußen sich aneinander betrinken.