Eine philosophische Reflexion über ein so komplexes Thema dauert. Meine Erfahrung als Philosoph ist, dass die Diskussion über die Fragestellung schon seine Zeit braucht, ehe man anfängt nach Antworten zu suchen. Es bringt ja nichts, wenn man in die falsche Richtung rennt, hauptsache man ist in Bewegung.
Von daher ist es gut, dass sich die Frage herausarbeitet.
Bezogen auf pues: "Ich bin alles, was aus mir heraus wirkt."
Eine Nachfrage dazu, weil es mir nicht klar erscheint: Meinst du damit "Ich beschränke mich auf das, was aus mir heraus wirkt"? oder willst du nur sagen: "Ich bin zumindest alles, was aus mir heraus wirkt, plus ein noch nicht näher bestimmtes x"?
Ersteres fände ich schon deswegen seltsam, weil deine Leber nicht aus dir heraus wirkt, sondern eher in dir und doch zu dir gehört. Genauso wie deine Erinnerungen Teil deines "Ichs" sind, aber nicht jede Erinnerung aus dir heraus wirken muss, sondern nur in dir wirken kann und dadurch recht indirekt nach außen wirkt.
Was ist aber mit den Dingen, die durch dich nach außen wirken? Nehmen wir an, jemand glaubt an Gott und Gott befiehlt ihm über die vermittelte Religion oder eine heilige Schrift die Welt zu missionieren. Wirkt dann Gott durch ihn, wie oftmals als Wort gebraucht und ist der Gläubige dann gleichzeitig Gott, weil er aus ihm heraus wirkt?
Wenn du hier einen Satz tippst. Dann wirkt der Satz aus dir heraus auf uns. Bist du dann der Finger, der den Satz tippst, oder auch noch das Signal, was dazu führt, dass der Text hier erscheint. Wie sieht es mit dem Text selbst aus? Ist er noch Teil von dir, oder schon von dir getrennt? Du benutzt die Sprache, die Tastatur, den Joyclub und verwebst ihn mit dem, was aus dir wirkt. Wann bist es noch du?
Du liest meinen Text, wenn er auf dich wirkt und dich verändert, habe dann ich dich verändert? Sind meine Gedanken jetzt in deinem Kopf und vermischen sich mit deinen, oder sind es in dem Moment deine, wo deine Augen sie aufnehmen?
Wir nutzen beide die gleiche Sprache, die wir nicht erfunden haben. Ist es unsere Sprache? Ist es Teil von uns, oder etwas anderes, was wir uns nur leihen, so wie man sich einen Hammer vom Nachbarn leiht, ohne dass es der eigene Hammer wird? Sind die Gefühle, die hier über den Umgangston geäußert werden, die eigenen, oder nur ein Produkt einer gesellschaftlichen Vorstellung von Höftlichkeit, die dann ein Gefühl auslöst?
Meine Meinung ist:
Es gibt viele Dinge, wie Normen, Werte und Empfindungen, Wörter etc. bei denen das "Ich" nicht durch "wirken" gefasst werden kann, weil sie durch uns wirken, ohne dass sie Teil eines Ichs im Sinne einer unverwechselbaren Identität wären. Wir reproduzieren täglich mit unserem Verhalten Verhaltensweisen, die wir gelernt haben. Deren Urheber sind wir nicht im Sinne einer freien Schöpfung von etwas Neuem.
Zwar bist du alles, was aus dir wirkt, aber eher als Teil eines "Beziehungsgeflechtes menschlicher Angelegenheiten"(Hannah Arendt) in dem dein eigener Anteil gar nicht so leicht zu beziffern ist.
Ganz profanes Fußballbeispiel:
Du spielst einen tollen Pass. Ist das dein Pass, obwohl du ihn nur spielen konntest, weil dein Nebenmann dir den Ball so gut hingespielt hat? Ist es dein Pass, obwohl er nur ankommt, weil ein Mitspieler ihn erläuft. Obwohl er überhaupt nur Sinn macht, weil du mit Gegner nach von außen vorgeschriebenen Regeln einem Ball nachjagst. Der nur möglich war, weil jemand den Ball und die Fußballschuhe hergestellt hat und dir verkauft hat? Weil die Gesellschaft den Bolzplatz zur Verfügung stellt. Weil die Normen unserer Gesellschaft Männer überhaupt Fußball spielen lassen und er nicht als Frauensport verschrien ist.
Vielleicht spielst du auch nur Fußball, weil du in Deutschland lebst und der Sport dort populär ist und (immer noch) mit Männlichkeit konnotiert. Vielleicht stündest du gar nicht auf dem Platz, wenn er als "Pussysport" verschrien wäre, sondern würdest rhythmische Sportgymnastik betreiben.
Oder du spielst, weil du deinem großen Bruder nacheiferst, oder dem Vater oder Lothar Matthäus.
Was ich damit ausdrücken will:
Der Ursprung von unseren Handlungen liegt nicht allein in einer freien, ungebundenen Entscheidung. Die meisten Entscheidungen sind eng mit allem Möglichen verbunden, so dass ich mir schwer tue das "Ich" gerade auf das zu bauen "was aus mir heraus wirkt".
Mein Ansatz wäre:
Hören wir auf, ein "Ich" zu konstruieren, dass zwanghaft nach einer Abkapselung strebt, sondern verstehen wir das "Ich" als eine kulturelle Hilfskonstruktion (kulturell, weil andere Kulturen sich viel schwerer tun überhaupt das "Ich" allein zu denken) eines auf Individualismus ausgerichteten Wertesystems.
Überlegen wir uns als, wieso wir ein "Ich" definieren wollen und ob das Ziel es überhaupt erfordert?
Das wäre dann meine Frage an den TE:
Brauchst du denn ein deutlich abgegrenztes Ich um deine Fragen zu beantworten? Hat es einen Sinn auszuforschen, wer genau du bist? Würde es nicht reichen, z.B. um in einer Situation richtig zu handeln, die Situation zu erfassen mit dir als einem nicht klar abgrenzbaren Teil davon?
gruß
Brynjar