Strukturalismus ist der Versuch, der Komplexität durch Zerlegen Herr zu werden. Dieser Versuch ist weitgehend geglückt, weshalb er als nicht geglückt gelten muss. Hier ein älterer Text, der sich um Glauben, Wissen und Komplexität dreht.
„Ich habe hier zusammengefasst, was mir zu Kommunikation im Netz und den eigentümlichen Bedingungen, unter denen sie dort lebt, durch den Kopf geht. Eine Frage zu formulieren, die hier als Überschrift stehen könnte, ist nicht leicht. Von Antworten kann eh keine Rede sein. Der Bereich, den ich hier umfahre, umfasst die Brüche in der Kommunikation; Vorgänge, die eine laufende Diskussion aus der Bahn werfen und den Fluss unterbrechen.
Das Bild des Flusses blieb mir dabei als Idee haften, und ich möchte für diesen Beitrag an dieser Metapher festhalten. Kommunikation ist ein fließender Austausch von Äußerungen. Bei der thematischen Entwicklung gibt es einen unentwegten Richtungswechsel. Es werden Schleifen gezogen, um einen Punkt oder ein Gebiet genauer in Augenschein zu nehmen, doch insgesamt geht die Bewegung in Richtung des Meeres. Sie folgt dem Gesetz der logischen Schwerkraft.
Es gibt immer wieder Zuflüsse von mehr oder weniger Mineralgehalt, Stromschnellen und seichte Strecken, es kann zum Versiegen des Interesses und zu weiteren Erscheinungen kommen.
Der Text ist sehr lang und enthält Aussagen, die Annahmen sind und deren Stichhaltigkeit ich mir nicht sicher bin. Ich habe sie nicht gekennzeichnet, weil es mir um plausible Vorstellungen geht. Sollte es sich herausstellen, daß sich falsche, irreführende Aussagen finden, bitte ich, darauf hinzuweisen.
Welt
Für mich ist die Welt ein Fluss. Er entspringt irgendwo in der Vergangenheit und endet irgendwo in der Zukunft. Er wird also nirgendwo münden, sondern enden. Vielleicht wird ein Meteor die Erde sprengen, oder ein anderes Ereignis wird zu einem Ende führen. Spätestens, wenn die Sonne sich zu einem Roten Riesen aufbläht, ist es vorbei.
Mensch
Die Menschen haben den Anfang der Welt natürlich nicht mitbekommen, werden ihr Ende aber vielleicht miterleben. Ihre Geschichte ist ebenfalls wie ein Fluss, der nirgendwo mündet. Er ist nicht in die Gesellschaft der Jäger und Sammler gemündet, sondern hindurchgeflossen und tut es noch. Ebenso war es mit den späteren Stadien, auch wenn es welche gegeben hat und gibt, die sehr lange andauerten. Tyrannis, Monarchie, Aristokratie, Diktatur, Demokratie usw. sind geschichtliche Erscheinungen von Herrschaftsformen, die für eine Zeitspanne Bestand hatten oder haben. Zu erwähnen sind noch Bürokratie, Technokratie und Ökonomie, auf die sie hinmäanderte und durch die sie bereits fließt; die Herrschaft der Verwaltungs-, Technik- und Wirtschaftsfunktionäre.
Die Menschen haben in einem bestimmten Abschnitt ihrer Geschichte, der eigentlichen Menschwerdung, angefangen, sich von der Welt, von der Natur, zu entfernen und die ersten Artefakte zu schaffen; Kultur. Sie haben begonnen, Werkzeuge zu bauen, zu sprechen und Bilder zu machen. Mit Sprache und Bildern entstanden die ersten Symbole, also Dinge, die mit der Welt nur noch vermittelten.
Sonne, Mond und Sterne, Feuer, Tiere, Bäume, Menschen bekamen eine Bedeutung und einen Namen. Das Weinen oder Schreien als direkter Ausdruck von Schmerz bekam ein Symbol zur Seite gestellt; ein Wort. Der unwillkürliche Warnschrei als Ausdruck von Gefahr bekam ein willkürliches Zeichen; ein Wort. Alles Wichtige erhielt ein eigenes Symbol, das von der Erscheinung, für die es stand, unabhängig war; man konnte in Abwesenheit der Erscheinung über sie sprechen.
Die Bilder, die sie an ihre Höhlenwände malten, waren Symbole für die Jagd. Sie repräsentierten die erfolgversprechende Art der Jagd, die beste Position des Jägers zum Tier.
So bauten die Menschen ein logisches Instrumentarium aus, mit dem sie anders zu leben begannen. Waren sie bis dahin Teil der Welt, untrennbar mit ihr verbunden im Hier und Jetzt, so waren sie nun einen Schritt von ihr zurückgetreten. Das war ein theoretischer Schritt zurück, um einen inneren Abstand von der Welt einzunehmen und sich so ein Bild von ihr zu machen, sie zu imaginieren. Sie hatten Symbole vor sich gestellt, zwischen sich und die Welt. Damit hatten sie gelernt, sich etwas vorzustellen und in der Theorie, in der Anschauung, zu leben. Die Inhalte dieser Anschauung waren Dinge des täglichen Lebens und des Göttlichen, wobei dieser Unterschied möglicherweise nicht gemacht wurde. Das magische Bewusstsein war in der Welt.
Das ist für mich die eigentliche Menschwerdung: Das Zurücktreten von der Welt als Natur in eine Welt der Kultur und der Theorie. Man entwickelte diese Welt fortlaufend und stattete sie aus; mit Technik wie Waffen und Werkzeuge sowie logischen Systemen wie Sprache, Schrift, Mathematik. Beides; logische Systeme und Technik, sind mittlerweile verschmolzen. Information, Energie und Waren werden bewegt; in Massen, über Distanzen und mit Geschwindigkeiten, die zuvor göttlich waren.
Auf dem Weg hierhin liegen auch klaffende Wüsten; die Teile der Welt, die restlos in Kultur umgewandelt und dabei vernichtet wurden – auch das in einem Ausmaß und mit einer Macht, die zuvor göttlich war.
Ich spreche deshalb von göttlich, weil ich auf Folgendes hinaus will: die vollständige Auflösung der Welt in Wissen, Information und letztlich in Digits. Mit dem Entstehen logischer Systeme war die Grundlage für Wissenschaft gelegt, und es zeigte sich, daß Wissen und Glauben in einen Konflikt geraten müssen.
Wissen
Aus dem „äußeren Abstand“ zur Welt, der ursprünglich der Abstand einer Armlänge war, wurden die ersten Waffen und Werkzeuge hergestellt, die eine Verlängerung und Verstärkung der Arme und Hände bewirkten. Doch mit dem inneren Abstand zur Welt, der die Imagination ermöglichte bzw. voraussetzte, war der Weg gebahnt, der den Menschen dorthin führte, wo er heute steht. Mit der Sprache und besonders mit der Schrift war es möglich geworden, Wissen weiterzugeben und immer planvoller zu vermehren.
Die ersten schriftlichen Dokumente waren Lagerlisten, mit denen sich die Handeltreibenden verschiedener Sprachen im östlichen Mittelmeerraum der Probleme entledigten, die eine nur lautsprachliche Kommunikation über Warenmengen mit sich brachte. Man konnte sich leicht vertun und in Streit geraten. Das numerische Denken steht also schon ganz am Anfang der Schrift.
Ansonsten waren es für eine sehr lange Zeit größtenteils philosophische, religiöse Texte. Als man begann, sich nicht mehr unter Götter zu beugen, sondern über die Dinge, begann die Geschichte, immer mehr Fahrt aufzunehmen. Die Dinge wurden zunächst auseinandergenommen, um in ihnen das Göttliche zu erkennen, den göttlichen Plan. Mit zunehmendem Wissen erkannte man, daß Gott nicht besser wissen kann als der Mensch, daß Eins und Eins Zwei ist. Somit war der Wissenschaft nichts mehr heilig.
Und es stellte sich heraus, daß Wissenschaft die Dinge immer weiter auseinander-nehmen und in immer kleinere Teile auflösen muss. Feuer, Erde, Luft und Wasser waren keine Elemente mehr. Dieser Name ging auf die reinen Stoffe über, aus denen sie alle bestehen. Doch sind auch diese nicht die eigentlichen Elemente, denn sie bestehen aus nur wenigen Teilen: Protonen, Neutronen, Elektronen, Quarks, Quanten, Hicks, Strings.
Der Mensch selbst wurde geteilt in Kreislauf, Muskeln, Knochen; in Prozesse des Stoffwechsels, in Proteine, Hormone, Enzyme, Aminosäuren, Botenstoffe. Sein Geist wurde zerlegt in Seele, Psyche, Bewusstsein, Unbewusstes, Denken, Wollen, Angst, Trieb, Affekt. Der Mensch besteht jetzt aus Charakter, Verhalten, Einstellungen. Diese wiederum bestehen jeweils aus Teilen; etwa das Verhalten aus Aktionen, denen zur selben Zeit unbewusste und bewusste Motivationen zugrunde liegen. Flirten ist Verhalten und somit Aktion, die wiederum aus Aktomen besteht, z.B. Komplimente.
Dieses Wissen ist zum großen Teil einmal jeweilig das Wissen von Spezialisten gewesen. Heute ist es den meisten Menschen mehr oder weniger geläufig. In alltäglichen Unterhaltungen kommen Wörter wie „Erwartungshaltung“, „unbewusst“ oder „unterschwellig“ über ihre Lippen. Sie wissen, was eine Allergie ist und können schwere Gemütszustände als Depression diagnostizieren.
Glauben
Neben dem Bereich des Wissens liegt derjenige des Glaubens. Diese Unterscheidung gibt es noch nicht sehr lange in dieser klaren Trennung. Sie wird erst mit der Entwicklung der Wissenschaft der Neuzeit – seit Beginn des Buchdrucks – ab Mitte des vergangenen Jahrtausends deutlicher.
Die Vorstellung von etwas Größerem, Überirdischen, Jenseitigen ist eine angemessene und gewissermaßen zwingende menschliche Reaktion aus der Zeit der ersten Symbole. Als man begann, den ersten Schritt zurück von der Welt zu tun und Symbole zu benutzen, hatte man die Ebene der Bedeutungen erreicht. Man war in der Lage, sich zu erklären, welche Bedeutung die Erscheinungen haben, die das Leben des Menschen bedingen.
Wenn das Baby von der Mutter versorgt wird, müssen das Bison, der Fluss und die Pflanze, von dem der Clan lebt, auch als versorgende, fürsorgliche Geste, als Geschenk von irgendwem oder irgendetwas stammen. Wenn man geboren wird und aufwächst, Kinder macht, aufzieht und dann sterben muss, obwohl alles andere ewig bleibt – der Fluss, das Tal, die Sonne – dann muss das etwas bedeuten.
Die bewusstseinsverändernde Wirkung von Stoffen und von bestimmten Tätigkeiten, die in einen Trancezustand münden, wurde als Mittlung in Parallelwelten erklärt, in der sich besondere Bedeutungen finden lassen. Damit wurde die sinnlich erfahrbare Welt mit Erfahrungen bereichert, die nicht unmittelbar zu machen sind, aber denselben Wahrheitsgehalt hatten wie unmittelbare. Noch im Mittelalter war die Welt des heutigen Europa bewohnt von Dämonen, Elfen und allerlei Glücks- und Unglücksbringern, die ebenso wirklich waren wie der Nachbar.
Heute ist diese heidnische Seinsweise ebenso Wirklichkeit wie die religiösen oder die atheistischen.
Marktplatz
Der Ort des Tausches war der Marktplatz. Dort wurden Symbole und Waren getauscht. (Ich spreche deshalb immer wieder von Symbolen, um den Zusammenhang nicht aus den Augen zu verlieren, daß es sich bei der Kommunikation um den Tausch von Bedeutungen handelt, die interpretiert werden müssen. Es könnte ebenso davon die Rede sein, daß auf dem Marktplatz neben Waren auch Informationen getauscht, also Gespräche geführt werden.) Mit Warentausch ist der Dreh- und Angelpunkt gesellschaftlichen Lebens angesprochen und damit der Alles umspannende und tragende Teil der Menschheit. Güter werden produziert und vertrieben, Geld als universeller Wertersatz wechselt den Besitzer. Dieser wirtschaftliche Verkehr soll als Allem unterliegende Struktur nur erwähnt werden.
Der Ort des Tausches ist auch heute noch der Marktplatz, doch sein Aussehen hat sich gewandelt. Es gibt den traditionellen Marktplatz nach wie vor: die Kinder spielen am Brunnen, die Alten sitzen im Schatten, trinken Wein und spielen Domino, während an den Obst- und Gemüseständen gehandelt, das Neueste besprochen und das ein oder andere Geschäft abgeschlossen wird.
Es gibt auch den Marktplatz, der nicht mehr an einen Ort gebunden ist. Er ist aus der Mitte des Dorfes oder der Stadt hinausgewandert und besteht aus unzähligen großen und kleinen Plätzen überall auf der Welt, die sich nur zum Teil an einem festen Ort manifestieren. Er wird unterteilt in eine unbestimmbare Zahl von Einzelmärkten; Arbeitsmarkt, Bananenmarkt, Computermarkt, Devisenmarkt, Elektronikmarkt, Finanzmarkt und so weiter. Dort sitzen Menschen vor Bildschirmen und an Telefonen. Es sind Funktionäre. Sie sitzen in heimischen Wänden, in Büros, Börsen, Autos, Zügen und Flugzeugen. Von dort aus stehen sie in weltweitem Kontakt mit anderen Funktionären und treiben eine Kommunikation, deren Inhalte von Mitteilungen über den aktuellen Aufenthaltsort, die Befindlichkeit und Ähnlichem bis zu weitreichenden und folgenschweren Entscheidungen reichen, die Geldsummen in Milliardenhöhe umbuchen und das Schicksal von Millionen von Menschen beeinflussen oder besiegeln.
Es gibt ihn nach wie vor, den einzelnen Menschen, und er hat nach wie vor die grundlegenden Bedürfnisse wie Nahrung, Schutz und Fortpflanzung. Das grundlegendste Bedürfnis sehe ich dabei in der Gemeinschaft, welche Nahrung, Schutz und Fortpflanzung erst ermöglicht. Diese Gemeinschaft aber hat sich grundlegend gewandelt. Die Gesellschaft hat sich im Zuge der Differenzierung des Wissens selbst differenziert, und zwar in ein Stadium feinverästelter Zergliederung, das für jeden Einzelnen eine von vielen sehr speziellen Funktionen bereithält. Bevor er diese Funktion ausüben kann, durchläuft er eine Zeit der Entwicklung, die unter sehr unterschiedlichen Bedingungen verläuft.“