Zufriedenheit
Judith Butler hat einmal sinngemäß gesagt, dass das Leben voller Entscheidungen ist, Entscheidungen aber bedeutet, dass Alternativen verworfen werden. Dieses Verwerfen kann keinerlei Spuren hinterlassen, nicht selten verwerfen wir jedoch Dinge und bedauern sie.
Das wäre für Butler der "gesunde" Weg. Alternativen -> Entscheidung -> Verworfenes betrauern.
Die Crux einer freieren Gesellschaft ist, dass Individuen (scheinbar) vor mehr Entscheidungen stehen und daher auch mehr verwerfen müssen. In einer Zeit in der Frauen gar keinen Beruf hatten und Männer das Handwerk ihrer Väter erlernten, gab es beispielsweise wenig Entscheidungen bei der Berufswahl. Es steht zu vermuten, dass es immer wieder Trauer über nicht vorhandene Möglichkeiten gab. Doch damals wie heute gibt es weniger Trauer über unmögliche, unnormale oder unwahrscheinliche Alternativen, die verworfen wurden.
Heute ist die Berufswahl von Standes-, Klassen- und Geschlechtergrenzen (scheinbar) befreit. Dadurch sind die Menschen jedoch gezwungen sich gegen 99% der möglichen Alternativen zu entscheiden, bzw. für ein, zwei oder drei. Das dabei das Gefühl verpasster Chancen größer ist, verwundert nicht.
Ähnlich sehe ich das mit der möglichen sexuellen Entfaltung. Wie ein Vorredner richtig sagte, war die Existenz des weiblichen Orgasmus lange Zeit kein Thema bzw. schlicht unbekannt. In dieser Situation können wir uns ziemlich sicher sein, dass es zwar nicht weniger Frauen mit Orgasmusproblemen gab (und wahrscheinlich deutlich weniger die einen Orgasmus hatten). Es gab aber mit Sicherheit weniger Frauen, die ihre fehlenden Orgasmen betrauert haben, oder gar Minderwertigkeitskomplexe deswegen bekamen. Es gab auch sicher weniger Männer, die daran verzweifelten ihre Frauen zum Höhepunkt zu bringen.
Das Gleiche gilt für Homosexualität bzw. für homoerotische Phantasien, bi-interesse etc. Immer wieder hört(e) ich in Interviews älterer Semester (gerade vom Lande) Sätze wie "bis ich 20 war, wusste ich nicht was homosexuell sein sollte". Mit ziemlicher Sicherheit war die Frage, ob Mann/Frau sich nicht auch mal mit dem gleichen Geschlecht ausprobieren sollte, keine, die diese Menschen verwerfen mussten. Es kam auch kein Verlustgefühl auf, weil sie vielleicht gewollt hätten, aber sich nicht trauten.
Anders gesagt:
Oftmals wird Freiheit falsch dargestellt. Sie wird nur in der Gegenwart der Unfreiheit entgegengestellt, aber nicht als Prozess verstanden. Die Befreiung ist keine Geschichte der wachsenden Möglichkeiten, sondern auch der wachsenden Verwerfungen.
Wenn eine Gesellschaft jedoch eine radikale Befreiung erlebt, ohne zu lernen mit den Verwerfungen umzugehen, sie angemessen zu betrauern und abzuhaken, dann führt größere Freiheit nicht zu mehr Zufriedenheit. Im Gegenteil kann mehr Freiheit Unsicherheit und Unzufriedenheit bedeuten, weil überall verpasste Gelegenheiten zu sehen sind.
Das so eine Gemengelage sich nicht positiv auf den Bindungswillen (als Voraussetzung für eine Bindung, aus der dann wiederum Liebe entstehen kann und nicht nur Verliebtheit) auswirkt, ist meiner Meinung nach verständlich.
Brynjar
p.s.: Im Text findet sich das Wort (scheinbar). Das habe ich reingesetzt, weil ich an dieser Stelle den größten Frustfaktor nicht auch mit hineinpacken wollte. Nämlich den der scheinbaren Freiheit, bsp. wenn einem der Joyclub hunderttausende mögliche Partner vorgaukelt, die nur einen Klick entfernt sind.