Gutachten zur Mehrfachehe in der Schweiz 2014
Ist auch schon ein Weilchen her... (April 2014), aber weil ich's mit der Suchfunktion in der Gruppe nicht fand, der Grundsätzlichkeit und Vollständigkeit halber hier eingestellt. Aus einem beabsichtigten Link-Beitrag ist dann doch etwas mehr herausgekommen... Diejenigen, die der Meinung sind, ich hätte mich übergriffiger Weise in innere politische Angelegenheiten eines anderen Staates eingemischt, bitte ich bereits jetzt um Entschuldigung.
Fazit für eilige Leser
(nach Überraschungsgrad in umgekehrter Reihenfolge sortiert):
1. Wer glaubt, was in der Zeitung steht, ist selbst schuld.
2. Normkonformes Denken kann mit Hilfe der Medien wie eine Revolution erscheinen, wenn ein Tabuthema berührt wird.
3. Sex unter Verwandten ist erlaubt.
4. "Die Schweizer" sind fortschrittlicher, als ich bisher dachte.
Dieses Gutachten scheint angesichts des offiziellen Rahmens auf den ersten Blick "revolutionäre" Gedanken zu enthalten.
https://www.bj.admin.ch/dam/ … ht/gutachten-schwenzer-d.pdf
Im Auftrag des Schweizer Justizministeriums hat es den dortigen (hiesigen darf ich als Nachbarländer ja nicht sagen ) Blätterwald mächtig aufrauschen lassen. Ein paar Beispiele:
http://www.texted.ch/legacy/gluecklich_mit_mehr_als_einem_partner
http://www.aargauerzeitung.c … lygamie-nachdenken-127919197
Wenn allerdings "Die Freie Welt"
"Polygamie und Inzest im Heidiland"
http://www.freiewelt.net/blo … nzest-im-heidiland-10030913/ meint:"Die Privatrechtprofessorin Ingeborg Schwenzer, die mit ihrer Partnerin zusammenlebt, führt seit Jahren einen Kreuzzug gegen traditionelle Normen. Sie studierte in Berkeley der Hochburg der Gender-Pionierin Judith Butler, deren Ziel die Dekonstruktion aller Geschlechteridentitäten und -rollen ist."
stellt sich die Frage, wie Judith Butler als Studentin für Rhetorik und vergleichende Literaturwissenschaften an einem ganz anderen Ort so großen Einfluss auf die Rechtswissenschaftlerin Schwenzer haben konnte. Letztere studierte nämlich 1975/76 in Berkley, während Butler zu dieser Zeit in Yale noch die Schulbank drückte, erst 1993 in einen Fachbereich entsprechend ihrer Ausbildung nach Berkley wechselte, und vor diesem Zeitpunkt den Campus von Berkley schwerlich in eine Brutstätte der Gender-Revolution verwandeln konnte.Da werden völlig unzusammenhängend zwei Namen und zwei Orte in ein Thema gewürfelt, um der Stammtischfraktion der mitdenkenden Leserschaft ein ihrem Niveau entsprechendes Futter anzubieten. Damit es recht schmackhaft wird, begibt man sich auf eben dieses und ist sich nicht zu schade, angesehene Wissenschaftler mit lausiger "Recherche" zu diskreditieren. https://de.wikipedia.org/wiki/Ingeborg_Schwenzer
Das mediale Reizwort "Inzest" erscheint in dem 58seitigen Gutachten an einer Stelle:
"Kritisch zu betrachten ist das Inzestverbot zwischen Geschwistern bzw. Halbgeschwistern, vor allem, wenn die Verwandtschaft insoweit auf Adoption gründet."
Nicht wenige Leserkommentare wirken in ihrer Emotionalität auf mich ähnlich fanatisch wie zu unseligen Zeiten das Thema "Rassenschande", obwohl in der Schweiz seit 2007 Stiefeltern und Stiefkinder heiraten können. Biologisch ist das nicht anders zu sehen als unter Adoptivgeschwistern. Bei Halbgeschwistern könnte das anders aussehen; das mögen die Fachleute entscheiden. Würde man sich wg. des erhöhten Risikos von Fehlbildungen zugunsten eines Inzestverbots von Halbgeschwistern (Geschwistern und anderen Verwandten?) entscheiden, müsste man konsequenter Weise (Gleichbehandlungsgrundsatz) ebenso all jene Menschen von der Fortpflanzung ausschließen, die von sich aus ein "erhöhtes" genetisches Risiko für ein Kind in sich tragen, obwohl sie nicht blutsverwandt sind. Wo endet logische Begründung, und wo beginnt das Tabu?
Konsequenter Weise sind sexuelle Handlungen unter Erwachsenen erlaubt, solange es nicht zu vaginalem Verkehr kommt (Umkehrschluss aus §173 StGB).
Lediglich eugenische Argumente stützen das Inzestverbot und stammen aus Zeiten, als es die heutigen medizinischen und juristischen Möglichkeiten noch nicht gab und Sex zumindest doppelmoralisch eher der Fortpflanzung diente, als der Freude am Miteinander.
Schwenzer hätte ihre Karriere verbrannt, wenn sie diese Themen zeitgemäß durchdacht hätte, wie es ihr Auftrag war.
Schwenzers vorsichtige Einladung zum Denken erscheint mir deshalb eher als Simulation zeitgemäßen Denkens aus politischer Rücksichtnahme. Logisch - schließlich ist das Justizministerium ihr Brötchengeber, und wes Brot ich ess, des Lied ich sing'. Das scheint "Die Freie Welt" doch glatt übersehen zu haben...
Eine derartige Wallung als Wirkung zeigt, wie tabu das Thema ist. Und Tabus haben irgendwann mit Verstand nichts mehr zu tun, und werden durch Emotionen für lange Zeit bis hin zum Denkverbot zementiert.
Es wäre schade, wenn die Polyamorie als Zutat gleich mit in diesen Denktabueintopf fallen sollte.
Hoffnung machen mir in diesem Punkt die Leser der Aargauer Zeitung und des Tagesanzeigers. Immerhin ein Drittel der Teilnehmer zweier Umfragen (genauere Datenbasis leider unbekannt) haben gemeint, dass andere Eheformen rechtlich der traditionellen Ehe gleichgestellt werden sollen. Welche "anderen" Eheformen mögen die werten Leser wohl im Einzelnen gemeint haben und welche nicht? Hier bleiben die Umfragen zu pauschal, um informierter zu werden.
Und ich habe "die Schweizer" als Gesamtheit für ein eher traditionelles Völkchen gehalten... . Ich sollte eben nicht alles glauben, was in der Zeitung oder sonstwo steht.
tm
P.S.: Dieser Text ist das Ergebnis einer imho oberflächlichen 4stündigen Recherche. Es gäbe noch viel zu lesen, zu sagen, und mit Eurer Hilfe könnte manches in einem anderen Licht erscheinen.
Ich bitte um Verständnis für mein - vlt. nicht immer und für jeden erkennbares - Spiel zwischen Spaß und Ernst. Das macht einfach Spaß, und deshalb bin ich ja auch hier.