Wollen oder Sein
Mag sein, ich habe heute einen Klugscheißer gefrühstückt - oder bin ein Wortpedant. Sieh es mir nach, wenn ich jetzt antworte wie folgt:
Ich habe einen Großteil meines Lebens streng "mono" gedacht, weil mir zu diesem Konzept sehr viel Ideologie geliefert wurde, es an wahrnehmbar zugänglichen Alternativen gemangelt hat. Alles, was über eine veranwortungsvolle Mono-Beziehung hinausging war freie "Liebe", wildes rummachen zur Vertuschung persönlicher Defizite und ein respektloses Ausnutzen des anderen Geschlechts für die eigene Haltlosigkeit.
Dann habe ich das Konzept "Liebe" neu überdenken dürfen, das Buch "Lebt die Liebe die ihr habt" von Michael Mery war ein Augenöffner, obwohl es darin garnicht um Poly geht, sondern um unsere Einstellung zur Liebe und der Gefahr, von einer einzigen Person für ein gemeinsames Lebens alles zu erwarten - auch von sich selbst. Überforderung auf ganzer Linie.
Poly oder Mono sind keine typologischen Merkmale, wie z.B. Intro- oder Extrovertiertheit. Es ist eine Einstellung, die Folge eine bewußten Entscheidung, wie man mit den Dingen umgehen will und mit wem. Offen dafür zu sein mehr als eine Person zu lieben behinhaltet für mich auch immer die Option, auch "mal" für länger oder dauerhaft "nur" eine Person zu lieben. Es fängt ja mit einer Person an. Mit mir. Solange ich mich nicht liebe, vertehe, annehme, klappt es weder mit Mono noch mit Poly noch mit sonsteiner Beziehungsform. Die Erweiterung auf "Mono" - was man ruhig als "Duo" oder "duale Liebe" verstehen darf, ist bereits eine enorme Herausforderung und Horizonterweiterung. Es fängt bei guten Eltern-Kind Beziehungen, platonischen Freundschaften, romantischen- aber nicht sexuellen Beziehungen an. Auch das ist schon mehr, als nur mono - wenn denn wirklich darin geliebt wird. Sofern wir gläubige Menschen sind, kommt hinzu, mit dem Konzept "Gott liebt ALLE" umgehen zu können. Das ist universelle "Poly" - und für mich kaum bis garnicht zu begreifen... Ich schweife ab, ja.
Die Aussage "Ich BIN Poly ..." kann aus dieser Warte dann auf jeden Menschen angewandt werden. Oder auf keinen. Letztlich ist es eine freie Entscheidung, die wir erst treffen können, wenn wir selbst Liebe begriffen haben - zumindest in ihren Grundzügen. Und dann... dann kommt die Praxis - und das ist dann noch einmal etwas ganz anderes.
Warum funktioniert Poly so oft nicht? Warum erscheinen uns viele Menschen, die sich Poly nennen völlig uneins zu sein mit den Grundgedanken dieses Konzeptes? Sie haben die Liebe nicht begriffen, die immer begrenzt bleibt auf das Maß, in dem wir uns selbst lieben, in dem wir bereit sind Weite, Toleranz und Vergebung zu leben, weil und wie wir es auf uns selbst angewendet haben.
Einen langen Bogen habe ich gespannt - weil mich Deine Fragen zum Nachdenken gebracht haben. Ich glaube, Du hast es anders gemeint. Jedenfalls stolpere ich schon bei dem Ausgangsstatement am Anfang der Fragen "Ich bin Poly..." bzw. "Ich bin Mono...". Aber wie gesagt - vermutlich ist das nur Pedanterie und geht an Deiner Frage und der Absicht dahinter gehörig vobei.
Ich bin "Baltic"! Und ich bin offen für polyamore Beziehungen. "Blue" ebenso. In dem Moment, wo wir uns dieser gedanklichen Weite geöffnet haben, sind wir schon nicht mehr "mono", auch wenn für keinen von uns schon eine zusätzlicher lieber Mensch in Sichtweite ist. Wir wissen, wo die Liebe die wir haben eine Ergänzung braucht, wo es eine Bereichung wäre, gäbe es da noch jemanden. Wir haben vage bis konkrete Vorstellungen. Aber es fehlt die Praxis. Was wir wissen ist, dass es funktionieren wird. Sehr schön werden wird und wenn diese Person/en uns begegnen, werden wir es wissen. Es müssen "die Richtigen" sein und ich/wir müssen wir diese Person "die Richtigen" sein. Egal, welche Konstellation, weil die ergibt sich dann wieder aus dem Ganzen. Mono und Poly funktionieren oder funktionieren nicht. Wenn ein "Mono" einem "Poly" den Freiraum gibt, dann ist er/sie gar kein "Mono" mehr, oder? Oder er "erlaubt" eine offene Beziehung - dann ist keiner der drei ein "Poly". Das Ganze kann man tot definieren, es ist und bleibt immer eine Frage des Herzens und dem, was da gerade individuell gelebt wird. "Polo" und "Mono" sind ja keine Bezeichnung für Schubladen, sondern für so einen riesigen Apothekerschrank mit hunderten von Schubladen zwischen denen wir zuweilen munter wechseln.
Danke für Deinen Gedankenanstoß und sei herzlich gegrüßt und bitte nicht verwirrt
Baltic