Das Bettlergleichnis, oder: Polyamorie als Nächstenliebe
Im Rahmen einer längeren Diskussion über Fragen von "Bedürfnissen in Beziehungen" (auch angeregt durch einen anderen Thread hier im Forum und einen Mailwechsel mit ähnlicher Thematik), ist mir heute die nachfolgende Geschichte in den Sinn gekommen. Das Bettlergleichnis, oder: Polyamorie als Nächstenliebe. Versuch einer nicht sexbezogenen Bestimmung aus non-dualer Perspektive
Paul fährt wie jeden Tag mit der S-Bahn zur Arbeit in Berlin Mitte. Auch heute wiederholt sich eine altbekannte Szene, nach zwei Stationen lässt sich eine Stimme vernehmen: „Sehr jeehrte Damenunterren, bitte entschuldigense die Störung. Ich verkofe die Obdachlosenzeitung Motz. Ick wäre Ihnen sehr verbunden, wenn se vielleicht ne kleene Spende oder was zu Essen oder zu trinken für mich hättn“. Der Bettler, er heißt Markus, wie Paul seit mehreren Monaten weiß, verrichtet wie jeden Tag sein Tagwerk auf dieser Linie. „Guck mal, Gerhard, so ein armer Mensch, haste nicht noch etwas Kleingeld vorhin vom KaDeWe über?“ fragt die in einen Pelzmantel gehüllte Mittfünfzigerin ihren Mitfahrer, der seufzend in die Tasche greift und sein schweinsledernes Portemonnaie zückt. Eine Dame mit Krückstock, sichtlich zitternd, gibt ebenfalls etwas Kleingeld, offensichtlich jedoch vor allem aus Angst vor Markus‘ zahnlosem Grinsen und seiner hünenhaften Gestalt, als dieser sich ihr nähert. Sie schnappt sichtlich nach Luft, als der sich zu ihr herunterbeugt und ein tiefes „Dangö“ entgegenhaucht. Als Markus schließlich seinen Pappbecher einem jungen Mann mit Union-Schal und Baseball-Schirmmütze hinhält, bricht es aus diesem heraus: „Alta, bin ick Graf Koks vonna Gasanstalt? Ick kann Dir doch nicht jeden Tag was geben, nua weil wir beede mit derselben Linie fahren!“ Eine dürre Dame Ende 20 mit einem Handkarren steigt zu, offensichtlich eine Bekannte von Markus: „Sach ma, wat machstn Du hier schon wieder, hats nicht jelangt mit der Schore? Ick würd ma ja langsam schämen, die Leute hier so auszunehmen“. Ein andere Fahrgästin springt Ihr bei: „Ja also wirklich, anderen Leuten geht’s auch schlecht und die tun wenigstens was Sinnvolles!“ Ein junge Frau mit Batikshirt geht dazwischen: „Also hört mal, wie rücksichtslos und egoistisch seid Ihr denn alle! Ihr seht doch, dass es dem armen Mann schlecht geht, da gehört es sich einfach zu helfen!“ Sie drückt ihm einen Euro in die Hand und schenkt ihm ein Lächeln. Danach fängt sie wie wild an, auf Ihr Smartphone zu tippen, und macht damit noch einen Schnappschuss von Markus, gestikuliert schließlich aufgeregt mit Ihrer Mitfahrerin herum, kann die Haltung der anderen nicht fassen. Ein Herr Mitte 40, mit kariertem Hemd, Hornbrille und Aktentasche zwischen den Beinen blickt einfach nur starr geradeaus, als der Becher vor seiner Nase vorbeizieht. Als Markus ans andere Ende des Wagens schreitet, lässt er sich vernehmen: „Früher ham Menschen noch ehrlich gearbeitet für ihr Geld! Aber seit die olle Merkel die Flüchtlinge reingelassen hat, geht ja eh alles den Bach runter.“ „Ja genau!“ mein ein anderer. „Ich würd ihm höchstens ne Stulle jeben, sonst kooft der sich ja eh nur Drogn davon!“. Markus scheint dies alles nicht zu hören. Stumm zieht er durch das Abteil und hält seinen Becher hin. Als er an Paul vorbeikommt, grüßt dieser ihn und fragt: „Na Markus, wie läufts?“. Plötzlich geht ein Grinsen über das Gesicht des Bettlers: „Gut, ich hab gestern nen Mantel am Zoo jefunden. Ganz gut, wenns jetze so kalt wird, auch wegen meinem kaputten Bein.“ Paul klopft ihm aufmunternd auf die Schultern: „Dit wird schon, mach dir keine Sorgen“. Markus schaut ihn fragend an: „Haste vielleicht ooch noch nen Euro für mich?“ Paul schaut zurück. „Nee, sorry. Aber vielleicht die anderen Tage mal, wir sehen uns ja eh, ne?“ „Stümmt, bis denne!“. Markus verlässt humpelnd die S-Bahn. Zwei Stationen später steigt Paul aus, kauft sich ein Eis für 2 Euros. Als er feststellt, dass er aus Versehen eine Sorte erhalten hat, die mit Kunstmilch gefertigt wurde, gegen die er allergisch ist, schenkt er das Eis einem offensichtlich übergewichtigen, etwa 6jährigen Jungen, der ganz am Ende der Schlange steht, weil die anderen Kinder ihn immer wieder zurückdrängen. Das Kind strahlt über beide Ohren und Paul geht zufrieden ins Büro.