@****ral:
Ich kann es versuchen, aber das geht hier natürlich wieder nur im Medium der geschriebenen Sprache. und es wird nicht gerade kurz werden können.
Also, nehmen wir an, in einer Begegnung kommt es dazu, dass ein Mensch A einen Mensch B berührt. Diese Berührung kann durch Sprache erfolgen, durch Blicke, Gesten, oder auch durch eine körperliche Berührung.
Nehmen wir an Mensch B, der berührt wurde, empfindet dadurch Emotionen. Vielleicht angenehme, vielleicht unangenehme. Diese Emotionen sind zwangsläufig das Produkt der ganz persönlichen Biographie dieses Menschen, der in einem ganz spezifischen Milieu in einer ganz spezifischen Kultur aufgewachsen ist. Und das gleiche gilt auch seine Reaktion auf die empfundenen Emotionen, die wiederum für A sichtbar werden, in dem Sie mit Blicken, Gesten, Sprache oder durch eine körperliche Berührung ausgedrückt werden.
Aber A's Verständnis dieses Ausdrucks ist natürlich wieder begrenzt durch seine persönliche Biographie, Milieu, Kultur. Usw. usf.
Durch diese Gemengelage ist zwischenmenschliche Interaktion / Kommunikation immer in gewissen Sinne "brüchig" und was wirklich "verstanden" wurde und was zwischen zwei Personen wirklich "geschehen" ist, bleibt immer zweifelhaft. Das gilt auch, wenn wir das Ganze mit einer technischen Apparatur wie mit einer Kamera aufzeichnen und uns die Interaktion später anschauen. Weil diese Apparatur nicht die Gefühle und die Gedanken der Beteiligten erfassen kann und die ungeschrieben Regeln der Milieus und Herkunftskultur mitgedacht werden müssen, aber nicht sichtbar sind.
Wir können folglich zwar Mindeststandards der Höflichkeit und des Miteinanders vereinbaren, auf die sich alle miteinander beziehen können, sollen und müssen (zumindest innerhalb einer Kultur) aber selbst diese können sich maximal auf das äußerlich sichtbare Verhalten von Menschen beziehen. Und darum kann sich persönliche Verantwortung anderen gegenüber auch nur ausschließlich darauf beziehen. Der gesamte restliche Bereich ethischen Handelns gegenüber anderen und sich selbst obliegt der Selbstverantwortung. Es ist offensichtlich leichter, ein paar einfache bekannte Regeln zu befolgen, als sich der Mühe zu unterziehen, mit der angesprochenen Brüchigkeit menschlicher Interaktionen selbstverantwortlich umzugehen, was Selbstverantwortung im Kern bedeutet. Daher klagen insbesondere Menschen, die mit jener Brüchigkeit ein grundsätzliches Problem mit sich herumtragen, regelmäßig das Befolgen von Regeln ein (oder verlegen sich auf BDSM um dies zu bearbeiten), aber das ist halt am Thema vorbei, weil Selbstverantwortung sich auf einen GANZ ANDEREN BEREICH DES HANDELNS bezieht als die normale Verantwortung. Man kann diese beiden Dinge also überhaupt nicht "gegeneinander ausspielen". Die verbreitete Illusion, man könne dies, kommt dadurch zustande, dass wir Menschen erstens unsere Gefühle in Kommunikation und Interaktion selbst zum Thema machen können und zweitens dadurch, dass wir gelernt haben diese Fähigkeit auch "taktisch" zu benutzen (im Guten wie im Schlechten) und drittens, dass das (partnerschaftlich, familiär, milieutechnisch, und kulturell leider positiv sanktionierte) Überlernen jener "Ausdrucks-Taktiken" dazu führen kann, dass wir unsere eigentlich Gefühle gar nicht mehr spüren (und noch weniger zum Ausdruck bringen) können, sondern die Karte "Sprache" mit dem Territorium "Körper" verwechseln. Dann wird plötzlich wichtiger, was wir für eine Identität konstruieren und wie wir uns deswegen bezeichen und einordnen können und müssen, als was wir tatsächlich tun und erleben. Sprache mutiert von einem Werkzeug der Verständigung über ver-körperte Erfahrungen dann zu einem Werkzeug des Seins in Kommunikation mit einem davon abgetrennten Körper. Am liebsten würden wir den ganz loswerden und uns irgendwo hochladen usw. usf.
Ich möchte das Problem im Folgenden an einem Beispiel illustrieren.
Nehmen wir nun an, B erlebt negative Emotionen durch die Berührung von A (z. B. Scham), obwohl diese im Rahmen der vereinbarten Verhaltensregeln war. Er könnte dann vielleicht denken: A hat mir weh getan, darum ist A ein Arschloch. A bringt dies aber nicht zum Ausdruck, denn er weiß ja, dass A sich an die Regeln gehalten hat. Das wäre ein Beispiel mangelnder Selbstverantwortung.
Nehmen wir nun an, B erlebt negative Emotionen durch die Berührung von A (z. B. Scham), obwohl diese im Rahmen der vereinbarten Verhaltensregeln war . Er könnte dann vielleicht denken: A hat mir weh getan, darum ist A ein Arschloch. A bringt dies zum Ausdruck, er nennt B ein Arschloch, obwohl der sich an die Regeln gehalten hat. Das wäre ein Beispiel mangelnder Selbstverantwortung.
Die einzig selbstverantwortliche Reaktion wäre selbstverständlich zu sagen: Du hast mir weh getan A, obwohl Du Dich an die Regeln gehalten hast. Ich weiß, dass Du es somit nicht beabsichtigt hast, aber bitte versuch diesen Typ Handlung in Zukunft zu vermeiden. Für Menschen, die ein Problem mit Selbstverantwortung haben, scheint es aber nur die beiden obigen Möglichkeiten zu geben, oder diese dritte ist zwar prinzipiell verfügbar, aber zu angstbesetzt.
Nehmen wir nun an, B handelt selbstverantwortlich im Sinne der dritten Option und A erlebt dadurch plötzlich eine negative Emotion (z. B. Schuld). Er könnte dann vielleicht denken: Was wirft B mir das jetzt vor, ich habe mich doch an die Regeln gehalten, er hat kein Recht dazu. Er gibt dem aber keinen Ausdruck. Das wäre ein Beispiel mangelnder Selbstverantwortung.
Nehmen wir nun an, B handelt selbstverantwortlich im Sinne der dritten Option und A erlebt dadurch plötzlich eine negative Emotion (z. B. Schuld). Er könnte dann vielleicht denken: Was wirft B mir das jetzt vor, ich habe mich doch an die Regeln gehalten, er hat kein Recht dazu. Er gibt dem Ausdruck und sagt zu B: "Immer wirfst Du mir sowas vor, obwohl ich mich nur an die Regeln halte". Das wäre ein Beispiel mangelnder Selbstverantwortung.
Die einzig selbstverantwortliche Reaktion wäre selbstverständlich zu sagen: Deine Reaktion hat bei mir Schuldgefühle ausgelöst, obwohl Du eigentlich sehr selbstverantwortlich gehandelt hast, indem Du mir Deine Emotionen kommuniziert hast und das ich daran eigentlich keinen Anteil habe. Bitte verstehe, dass es mir trotzdem schwerfällt, weil Deine Gefühle für mich mir sehr wichtig sind. Für Menschen, die ein Problem mit Selbstverantwortung haben, scheint es aber nur die beiden obigen Möglichkeiten zu geben, oder diese dritte ist zwar prinzipiell verfügbar, aber zu angstbesetzt.
Das waren jetzt ein paar typusche Beispiele für mangelnde Selbstverantwortung. Beispiele für mangelnde Verantwortung normaler Art brauche ich nicht geben, Sie liegen auf der Hand und sind trivial und darum einfach zu vermeiden: Nicht die allgemeinen Regeln des Miteinanders brechen, niemandem weh tun, der sagt, das ihm was weh tut. Aber das ist wie gesagt auch in unser Gesellschaft meines Erachtens nicht das Problem, auch wenn regelmäßig anderes behauptet wird. (Ich könnte jetzt mit einem Exkurs anfangen, der das Thema auch auf Swingerclubs, "Köln", etc. bezieht, aber es würde ausfufern)
Selbstverantwortung ist etwas, was man mühsam lernen muss, wenn man es nicht durch liebevolle Erziehung gelernt hat. Selbstverantwortung ist besonders schwierig zu erlernen wenn man Opfer familiären Mißbrauchs ist, ob dieser nun sexuell, gewalttätig, oder eine andere Form von Lieblosigkeit war.
Menschen, die das erlebt haben, haben Schwierigkeiten, zwischen ihrem fragilen Selbstkonstrukt und der (nun einmal unumgänglichen) Brüchigkeit menschlicher Interaktion zu vermitteln. Die Folge sind oft "schuldgenerierende Grenzüberschreitungen" (wie in obigen Beispielen), meist wird mehr oder weniger pauschal sich selbst oder jemandem anders die "Schuld" für die eigenen erlebten Gefühle zugeschrieben. Das liegt daran, dass Mißbrauch im Kern darauf beruht, dem kindlichen Opfer ein eigenen Selbst mit eigenen Gefühlen unabhängig vom Gegenüber abzusprechen und dies im Prozess des Erlernens von Kommunikation und Gefühlsausdruck in der Kindheitsphase. Dies wird auch gern damit gepaart, dass dem Opfer Schuldgefühle eingeredet werden. Dadurch werden nicht nur jene erzeugt, sondern eben auch das Prinzip "Schuldlogik" (aus dem Christentum), d.h. leidet jemand, muss auch immer jemand "Schuld" haben, Leid ohne direkten Verantwortlichen wird somit undenkbar. Oft wird dabei auch gelernt, den eigenen Körper nicht mehr wahrnehmen zu können, oder die eigenen (insbesondere negative) Gefühle zu negieren und ein rein sprachliches körperloses Selbst zu kreiieren dass den Idealen der Bezugspersonen entspricht.
Selbst bei Menschen die keinen Missbrauch im engeren Sinne erlebt haben, ist dieses Entkörperlichungs- und Schuldgenerierungsprogramm in unserer Gesellschaft latent vorhanden. Als Erbes des Christentums, der Descartschen Leib-Seele-Trennung, als Erbe überkommener Genderrollen, als Erbe der intergenerationalen Traumata der zwei Weltkriege und des Holocausts. Es kann auch im späteren Leben durch Traumata (Gewalterfahrungen, Operationen, Schwere Krankheiten) überhaupt erst geweckt werden.
Niemand der also mit Selbstverantwortung ein Problem hat, ist von daher "selbst schuld". Niemand sollte damit alleingelassen werden oder sich so fühlen.
Aber diejenigen, die jemanden in einer Diskussion darauf hinweisen, dass er ein Problem mit Selbstverantwortung hat, handeln sowohl verantwortlich als auch selbstverantwortlich. Es ist nämlich nicht nur ein berechtigter Hinweis darauf, dass alles, was über die allgemeinen Regeln hinausgeht, nicht "verregelt" werden kann, sondern kommunikativ ausgehandelt wird. Sondern es ist auch im besten Falle eine empathische Form von Anerkennung von Leid. Leider verstehen dass die Betroffenen in der Regel falsch und verstehen es als Nicht-Anerkennung der von Ihnen erlebten "Welt", als Ausgrenzung eben.
Da man nie wissen kann, was bei Menschen in dieser Weise "triggert" kann es auch keinen verantwortlichen Umgang damit geben, außer eben den, sehr gut und empathisch seine Mitmenschen und deren Reaktionen zu beobachten und einfach mal zu fragen, wenn man den Eindruck hat, jemand leidet aber schafft es nicht, dies zum Ausdruck zu bringen. Das wäre dann auch meine Antwort auf das von Tom geforderte "Mitnehmen". Ich kann jemandem die Hand reichen und Mut zusprechen, zu seinen Gefühlen und Empfinden zu stehen und ihnen Ausdruck zu verleihen. Aber tun müssen Sie es am Ende des Tages selbst, und Schuldzuweisungs-/Verantwortungsabweisungs-Spiele mitzuspielen hilft den Betroffenen überhaupt nicht.
Das mag alles klingen, als habe es wenig mit Ängsten innerhalb von Polybeziehungen zu tun, dem Thema dieses Threads. Aber da es bei allen Beziehungen, die wir führen in Wirklichkeit um diese Fragen von Verletzungen und Verletzwerden geht, wenn Missverständnisse aufkommen, und da Poly ein Raum ist, "wo die Regeln zu fehlen scheinen", sollte der Bezug klar sein. Man kann sich auch nochmal das Blog genauer anschauen, aus dem der Beitrag stammt und versteht dann vielleicht noch ein bisschen mehr.