Ist Polyamory Ergänzung oder Ersatz?
Ich lebe seit vielen Jahren polyamor und sehe das als einzige für mich passende Beziehungsform. Trotzdem erlebe ich immer wieder eine Dynamik, die mich an meinen Motiven zweifeln lässt. Ich versuche im Folgenden, meinen Gedankengänge zu erklären, und hoffe, dass es verständlich wird. Mein Anspruch an Begegnungen und Beziehungen ist, jedem Menschen offen und unabhängig zu begegnen und zu sehen, wohin sich eine Beziehung entwickelt. Dazu gehört, dass ich theoretisch keine Ansprüche habe, wie Beziehungen auszusehen haben (Häufigkeit von Treffen, gemeinsames Wohnen etc), sondern dass das etwas ist, was man miteinander entwickelt, (hoffentlich) in enger Kommunikation über Erleben und Emotionen. Praktisch weiß ich mittlerweile, dass ich einige Dinge brauche, um mich sicher zu fühlen und emotional stabil zu sein; ich bin in der Lage, das klar zu kommunizieren (meistens zumindest) und für meine Emotionen die Verantwortung zu übernehmen.
Nach diesem Anspruch sind Beziehungen unabhängig voneinander; jede Begegnung ist einzigartig in der Art, wie sie sich entwickelt, und hat unterschiedliche Aspekte und spricht unterschiedliche Seiten von mir an.
Soweit der Anspruch. In der Praxis lebe ich eine Hauptbeziehung, mit diesem Partner teile ich mein Leben. Diese Beziehung hat ihre Geschichte, ihre positiven Seiten, aber natürlich auch Dinge, die nicht funktionieren - unsere Themen, an denen wir immer wieder arbeiten, die aber (noch) nicht gelöst sind. Paartherapeutisch sind das genau die Gründe, warum man eine Beziehung führt: um gemeinsam an schwierigen Themen zu wachsen und sich zu entwickeln und gegenseitig zu fördern.
Nun habe ich mich schon mehrfach dabei ertappt, dass ich eine zweite Beziehung angefangen habe, die die Bedürfnisse aufgefangen hat, die für mich in meiner Hauptbeziehung (gerade) nicht erfüllt werden (Sexualität, Nähe, Zuverlässigkeit, etc). Es ist nicht so, dass ich das bewusst mache und sage "Mit dir klappt das nicht, dann suche ich mir jemanden anders.", sondern es passiert unbewusst und fällt mir meist er deutlich später auf, wenn die Situation etabliert ist. Dann kommt bei mir der Gedanke auf, dass ich quasi weggelaufen bin, dem Konflikt aus dem Weg gegangen bin.
Auf der anderen Seite: Kann eine Beziehung alle Bedürfnisse erfüllen? Ist nicht genau das ein Grund für Polyamory, dass dem eben nicht so ist?
Welche Bedürfnisse sollten in einer Beziehung erfüllt sein, damit es Sinn macht, sie fortzusetzen? Gibt es solche Grundbedürfnisse, die erfüllt sein sollten, oder führe ich eine Beziehung, solange ich mich wohlfühle, und "substituiere" halt mit anderen Begegnungen? Damit fallen ja eigentlich fast alle Trennungsgründe weg - ich mag meinen Partner, fühle mich wohl in unserer Beziehung, wir entwickeln uns in vielen Bereichen gut zusammen, und ich sehe keine Grund zur Trennung.
Meine Überlegungen, in einem Satz zusammengefasst: Ist es moralisch vertretbar, bestimmte Bedürfnisse außerhalb der Hauptpartnerschaft zu erfüllen, oder nehme ich damit meiner Hauptpartnerschaft die Entwicklungsmöglichkeit?