Polyamorie übersetzen oder verstehen?
Hi zusammen,
bei der Moderation der größten deutschsprachigen Facebook-Gruppe mit über viertausend Menschen, die sich für Polyamorie interessieren (Polyamorie deutschsprachig), kommen manchmal auch diese Fragen. Dabei halte ich es für zielführend, die Bedürfnisse und Wünsche des Menschen erst einmal kennen zu lernen, um dann die passende Form zu finden, also welche Werte jemand leben möchte.
Ein monogamer Mensch, der sich exklusiv binden möchte muss auch keine "Angst" haben vor Offenheit oder Verlust. Natürlich ist das oft so, aber auch da fangen schon die landläufigen Unterstellungen an. Können wir den Menschen nicht ihre Träume schön stehen lassen, ohne ihnen freiheitliches oder emotionales Versagen zuzuschreiben? Kann "anstreben" nicht etwas anderes sein, als krampfhaft suchen, einengen, monomame Verhaltensweisen rezipieren? Die angestrebten Beziehungen... bedeutet für mich, dass es einen Wunsch danach gibt, dass Raum ist für Verbindlichkeit, dass die inneren Werte Vertrauen und Beständigkeit wiederspiegeln und nicht "suchen" und "Angst", wie hier gerne kolpotiert wird. Selbst ein monogamer Mensch kann doch glücklich sein und Vertrauen haben, ohne Angst und katholilsches Ditkat der Freudlosigkeit...
Mit der Polyamorie ist es oft ähnlich. Ihr liegen bestimmte Werte zugrunde, die sowohl historisch begründet sind in der Ablösung von der frühen "Freien Liebe" Bewegung, in der Verbindlichkeit aus politischen, aus kulturpolitischen Gründen streng abgelehnt wurde, weil sie dem Kampf gegen die Kleinfamilie im Wege stand. „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“, soll Rainer Langhans mal als Provokation zu einem BILD-Reporter gesagt haben. In Wahrheit gar es in der Kommune 1 gar nicht nur ständig Orgien und heute spricht er auch vom Wunsch nach innerer Stabilität, von Herzensbindung und dem, was wir heute Beziehungsperspektive nennen.
Ja, es gibt auch die andere Seite:
"Polyamorie heißt, mehr als eine Person zur gleichen Zeit lieben zu können. Und das ist alles. Mehr sagt der Begriff nicht aus."
NinaFelwitch
Wer sich auf diesem Standpunkt stellt, nimmt einfach das Wort Polyamorie und übersetzt es nach dem, was die beiden Begriffe des zusammengesetzten Hauptwortes bedeuten. Das ist die Etymologische Definition - aber es ist nicht das, wie sich die Subkultur der Polyamorie entwickelt hat. Zitronenfalter falten ja auch keine Zitronen, auch wenn das noch so logisch klingen mag...
Was sich bei der Polyamorie getan hat, hat mit klassischer Beziehung zu tun! Wie und warum, steht ganz gut zusammengetragen aus den besten Quellen die es zurzeit gibt, im aktuellen Wikipedia-Artikel zur Polyamorie. Natürlich muss man das nicht leben, aber man muss sich auch nicht "polyamor" nennen, ohne die Hintergründe zu kennen. Im angelsächsischen Raum ist es noch mal eine etwas andere Sache, weil da die Freie Liebe als Bewegung auch einen anderen Einfluss auf die PA genommen hat und viel mehr zu hierarchischen und strukturierten Formen geführt hat (mit Haupt- und Nebenpartnern, denen krasse Grenzen und Regeln auferlegt werden), aber zum Teil überschneiden sich auch die gelebten Kulturen. Auch sollte man bei der Literaturrecherche bedenken, dass „The ethical slut“ vor allem offene Beziehungen und nicht in erster Liebe Polyamorie beschreibt. Diese kommt zwar in dem Buch vor, aber ebenso Anleitungen zur gelungenen Orgie und vieles andere, das mit langfristiger Beziehungsorientierung nichts oder wenig zu tun hat. Es ist eher eine allgemeine Schrift pro der Freien Liebe, mit einem Ausflug in die Polyamorie.
Und was nun die "angestrebten" langfristigen Beziehungen angeht, so schließet sich hier der Kreis mit dem Respekt vor individuellen Wünschen und Träumen derer, die nicht ganz so beliebig und hedonistisch leben, sondern auch ihrer Beziehungen eher planen als im Augenblick verhaftet sind. Natürlich darf es auch eine nicht-monogame Lebensweise geben, in der die Menschen langfristige Beziehungen anstreben. Nichts anderes ist die Polyamorie von ihrem Wertegerüst mit ihrer zentralen Forderung nach Verbindlichkeit, Einvernehmlichkeit und Transparenz. Das war es ja, was die Menschen mit Kindern in der Freien Liebe vermisst haben: langfristige Bindung UND die Möglichkeit, das mit mehr als einem Partner zu leben, offen für weitere verbindliche Beziehungen, tolarant für Freie Liebe und Affären, solange sie transparent und einvernehmlich gelebt werden, aber eben ein Leben zusammen planen zu können und auch einen Platz am Tisch der nicht-monogamen Beziehungsmuster zu haben. Auch ein eigens Wort dafür bitte. Darf das bitte sein? Es ist einfach nicht fair, einge gewachsene Subkultur immer wieder durch Unkenntnis auf beliebige Allgemeinplätze zu werfen und Sachen zu behaupten, Schubladendenken zu vermuten oder ohne Werteansatz zu diskutieren, wo es eine ca. dreißigjährige Entwicklung gibt, wo ein Wertegerüst gewachsen ist, wo Menschen mit ählichen Vorstellungen sich wiederfinden und vielleicht auch ihre Werte gerne an andere vermitteln wollen. Alleine schon, um den Kampf gegen die Ignoranz der Monogamie gemeinsam aufzunehmen und nicht selbst genauso ignorant zu werden für die Freiheit, nach der eigenen Fassong glücklich zu werden.
Ansonsten betriebt man ja auch wieder Ausgrenzung der Leute, die verbindlich mit mehr als einem leben wollen (!), im Sinne von "anstreben" und schiebt sie der Monogamie zu und ihrem spießigen Verständniss von Verlustangst etc. Aber nicht jeder, der sich fest binden möchte, hat Angst... die Menschen, denen mehrere feste Partnerschaften wichtig sind, haben auch einen Platz jenseits der Monogamie und ihnen muss man nicht unbedingt freiheitliche Mängel oder Ängste etc. zuschreiben. Es kann einfach ein anderes Verständniss von Treue sein, von Herzensbindung und Vertrautheit.
Die "Forderung" im Sinne von Wünschen der Leute, die so leben wollen, nicht in Sinne einer Schublade, in der sich andere einfinden müssen! Niemand würde je auf die Idee kommen, von einem Bergsteiger zu "fordern" sich anzuseilen in der Wand. Frei-Kletterer sind und dürfen immer frei sein, niemand fordert da etwas anderes. Aber Menschen, die sich das wünschen, mit mehreren Menschen in Liebe verbunden zu sein, haben eben diesen Wunsch für sich, auch wenn es sich "nur" um feste Freundschaften mit anderen Swingern und nicht gleich um eheähnliche Beziehungen mit Kindern und dem vollen Alltag handelt. Polyamorie ist da schon sehr offen, aber eben nicht so offen, das alles, was nicht-monogam ist, immer und ohne Hintergrundwissen, gleich Polyamorie genannt werden sollte.
Letztlich bleibt es aber doch jedem selbst überlassen, ob er nach polyamoren Werten leben möchte oder nach den Gesetzen der Freien Liebe, den "Naturgesetzen" des Augenblicks sozusagen, in der es eben auch klare Werte gibt und niemand vom Gegenüber erwartet, sich zu erklären oder gar gemeinsame Zukunftspläne zu schmieden. Freie Liebe ist frei. Polyamorie will sich binden, verantwortlich nicht-monogam und offen für weitere verbindliche Beziehungen. Wegen den Kindern, wegen des Alters, wegen der inneren Werte, wegen dem, dass man den besten Sex mit Menschen empfindet, die man schon besser kennt und schätzt, wegen,... was weiß ich. Aber es ist eine freie Entscheidung, diese Werte zu übernehmen oder, auch das ist ja ein tolles Beziehungsmodell, eher als Beziehungsanarchist zu leben.
Beziehungsanarchie hat gar keine „festgelegten“ (im Sinne von gewachsenen) Werte. Sie handelt alles im Einzelfall aus. Sie ist auch entstanden, weil viele Menschen sich verantwortlich nicht-monogam geben, aber eben die "gewachsenen" Wertebegriffe der Polyamorie erst mal nicht so für sich sehen. Sie unterscheidet sich von der Polyamorie dadurch, dass sie annimmt, man brauche keine formelle Unterscheidung zwischen verschiedenen Typen von Beziehungen. Beziehungsanrarchisten sind aber keine Chaoten! Sie sprechen mit jedem Menschen ab, was sie wollen, ob es langfristig angedacht ist oder wie auch immer und handeln das jeweils neu aus. Niemand kann in diesem Wertemodell "erwarten" dass der andere z.B. eine "ernsthafte" Beziehung wünscht, wenn er oder sie oder es diess nicht explizit sagt! Und diese Vereinbarungen sind dann sehr verantwortlich, können gekündigt und verändert werden, wie das Leben so ist und NICHT so, wie man seine Pläne mit Kind und Haus und Auslandsaufenthalt so setzt. Ich glaube daher, dass viele hier im Grunde her dort zuhause sind, von den Werten her. Auch das sollte man respektieren.
Im Grunde hat vieles auch mit Missverständnissen zu tun. Begriffe werden "selbst definiert", so wie man meint oder das Wort versteht und beim Begriff "Anarchie" denken ja viele auch gleich an Chaos und Randale. Aber auch das ist absolut daneben. Und wahrscheinlich sind hier auch viele unterwegs, die von ihren Werten her eher Beziehungsanarchist sind als Poly. Aber auch das ist doch wunderbar!
Der Respekt vor den Werten, die eine Subkultur erst hat entstehen lassen, nötigt uns aber in jedem Fall erst mal auf, nachzuschlagen worüber man hier eigentlich spricht (man redet ja auch nicht übers Bergsteigen und kennt nicht den Unterschied zwischen einer Seilschaft und einem Freikletterer), wie viele Jahrzehnte (im Fall der Polyamorie) da schon an Entwicklung drin stecken und nicht einfach zu behaupten, dass "Liebe" ja eh immer anders aufgefasst wird... das ist zu kurz gesprungen und der Diskussion einfach nicht dienlich, weil wir besser kommunizieren, wenn wir von gleichen Begriffen ausgehen. Wer nur das Wort übersetzt, fördert immer wieder die gleichen Missverständnisse und sieht nicht die wunderbare Vielfalt an verantwortlichen nicht-monogamen Beziehungsformen, die es schon gibt.
Historische Entwicklung mit Quellen:
https://de.wikipedia.org/wiki/Polyamorie
Fettes PDF zur Geschichte der Polyamorie von Christian Ruether, der die Historie 2004 an der Uni Wien erforscht hat:
http://christianruether.com/ … offene-Ehe-und-Polyamory.pdf
Freie Liebe als Grundbegriff:
https://de.wikipedia.org/wiki/Freie_Liebe
Beziehungsanarchie als weiter gefasste Form:
https://de.wikipedia.org/wiki/Beziehungsanarchie