Jetzt komm mal runter, PolySoph. Ich finde dein Post auch völlig klugsch...
Also:
Brauchen drückt nunmal ein Bedürfnis aus. Ich brauche etwas zu essen, trinken, die Luft zum atmen, einen Partner, Sex,…
Wird ein Bedürfnus nicht erfüllt, bekomme ich über kurz oder lang ein Problem, bis hin zum Tod, wenn es ein nicht erfülltes Primärbedürfniss ist.
Brauchen drückt ein Bedürfnis aus, okay. Und jetzt? Ist das schlimm?
Nirgendwo steht geschrieben, das es deswegen zu einer Abhängigkeit kommen muss, bei der es einen Unterlegenen und einen Überlegenen geben muss. Und mehr als Bedürfnis sagt Bedürfnis nicht aus - und null und überhaupt nicht, wie ich mit Bedürfnissen umgehe, oder, um bei deiner polysophischen Ader zu bleiben, wie man damit umzugehen hat.
Wenn ich in einer irgendwie sozialen Gesellschaft lebe, bringen mich die Primärbedürfnisse gegenüber meinen Mitmenschen nicht in eine Ohnmacht. Okay, in unserer kapitalistischen Welt schon manchmal. Wenn ich Hunger habe, dann ist es meine Sache, wie ich an das Essen komme: ich könnte Leistung gegen Lohn stellen und mir etwas zu Essen kaufen. Ich könnte betteln gehen, oder containern. Ich könnte auch den nächstbesten Menschen einfach überfallen, ihn ausrauben oder schneller noch seinen Kühlschrank leer essen. All das bringt mich zur Befriedigung meines Bedürfnisses. Der Weg, wie ich dieses Bedürfnis befriedige, ist ganz allein meine Sache, bzw die Sache, wie ich es im Rahmen der Gesellschaftsordnung, in der ich lebe, angehe.
Andersherum genauso: wenn mir ein hungriger Mensch gegenübersteht, kann ich völlig unterschiedlich reagieren: ich kann ihm schlicht Geld für Essen geben, ich kann ihn zum Essen einladen oder auch nicht, ich kann ihn stehenlassen, und ich kann ihn natürlich auch irgendwie unter Druck setzen, das er diese oder jene Leistung für mich erbringen muss, um etwas zu Essen von mir zu bekommen. Der Weg, wie ich mit den Bedürfnissen von anderen umgehe, ist genauso meine Sache bzw... siehe oben.
Das macht aus dem Bedürfnis an sich nichts anderes, als es vorher schon war. Es ist schlicht ein Bedürfnis. Ob nun ein primäres oder sekundäres oder tertiäres - es bleibt ein Bedürfnis und mehr nicht.
Ich für meinen Teil sage: wir brauchen einander. Wir haben das Bedürfnis nach Nähe, nach Geborgenheit, nach Begegnung und Auseinandersetzung, wir brauchen uns als Gegenüber, um uns selbst näher kommen zu können, und wir brauchen uns, um einander Liebe geben zu können.
Für mich sind das alles Bedürfnisse, die ich habe. Und, um bei deinem Satz zu bleiben:
Brauchen drückt nunmal ein Bedürfnis aus.
Ja, und damit brauche ich.
Wie ich mit diesen Bedürfnissen umgehe, das ist meine Sache. Ob ich mich abhängig mache, indem ich jemand anderen für die Erfüllung dieser Bedürfnisse verantwortlich mache, oder ob ich sie meinem Gegenüber als Wunsch formuliere. Oder ob ich hier und da dieses Bedürfnis in mir fühle und wahrnehmend akzeptiere, das ich es jetzt nicht befriedigt bekomme, weil mein Gegenüber es mir nicht geben kann. Und auch, ob das, was ich als Bedürfnis jetzt empfinde, nicht ganz woher anders kommt und von meinem Gegenüber garnicht zu erfüllen ist (siehe zB ParadiesQuelles Darstellung bzgl Innerem Kind).
Und genauso, wie ich mit den Bedürfnissen meines Gegenübers umgehe; bitte lies Allegras Beitrag noch einmal. Wenn ich das Bedürfnis nach Raum, nach wertfreiem liebevollem Raum bei meinem Gegenüber fühle und sehe, dann kann ich diesen Raum, wenn ich das gerade kann, einfach geben. Ohne irgendwelche Gegenleistungen zu erwarten, und ohne in irgendwelche gedanklichen Strukturen abzurutschen, das jetzt irgendwer von irgendwem abhängig ist und man doch unbedingt allein klarkommen muss.
Nein, muss man meiner Meinung nach nicht. Wir brauchen einander; wir haben Bedürfnisse, die wir uns nur miteinander und gegenseitig erfüllen können. Noch einmal: ja, es erfordert Mut, zu diesem Bedürfnissen zu stehen, und es erfordert viel Achtsamkeit auf beiden Seiten, diese Bedürfnisse auch leben zu können.
Für mich ist es aber keine Alternative, aus Angst vor diesem Miteinander meine unbedingte Unabhängigkeit "erarbeiten" zu müssen. Ich weiss, das in unserer Gesellschaft Konkurrenz statt Kooperation gelebt wird, das daraus Abhängigkeiten und Machtstrukturen erwachsen und ich dann am unantastbarsten bin, je unabhängiger ich bin. Also auf garkeinen Fall zugebe, das ich brauche.
Bitte akzeptiere, das es auch andere Wege gibt, die für dich nicht richtig sein müssen. Ich für meinen Teil möchte lieber lernen, ein Miteinander zu leben, in dem wir diese Bedürfnisse haben dürfen - in einem Miteinander von gegenseitiger Achtsamkeit. Auch wenn das manchmal sehr viel Mut braucht.
Bitte nicht vergessen: ich habe hier über den abhängigen Teil in mir geredet. Den unabhängigen Teil gibt es genauso.