Ich finde es schwer, die oben gestellte Ausgangsfrage objektiv zu beantworten - geht vermutlich nicht, denn jeder verknüpft ja seine eigenen Erfahrungen, oder die, die man im Bekanntenkreis mitbekommt, mit dem Thema.
• Selbstverantwortung ist noch relativ selbsterklärend, bei Wikipedia "Als Eigenverantwortung oder Selbstverantwortung (auch Eigenverantwortlichkeit) bezeichnet man die Bereitschaft und die Pflicht, für das eigene Handeln und Unterlassen Verantwortung zu übernehmen." hinterlegt.
Zu fragen wäre, ob das in Partnerschaften (Ehen) unter "alten" Voraussetzungen anders war...
Ich denke nicht, dass das Thema "Eigenverantwortung" nur deshalb einheitlich zu beantworten ist, weil Menschen eine bestimmte "Beziehungsform" für sich gewählt haben.
Es gibt - wie ich finde - gerade bei Menschen, die sich als polyamor fühlend bezeichnen, diesbezüglich GROßE Unterschiede.
Ich persönlich kann mich mit dem, was ich da mitbekomme immer weniger identifizieren, weil ich zu oft erlebt habe - persönlich, als auch im Austausch mit anderen - dass "Selbstverantwortung" von polyamor Fühlenden mit "Egoismus" (im negativen Sinne) definiert wird.
Heißt:
"Ich bin eine Insel, ruhe in mir und entweder du passt in mein Lebensmodell, oder... tschüß."
Ich vermisse die durch Liebe getragene Verbindlichkeit in diesen Aussagen und somit auch die im Buch erwähnte "Bereitschaft und die Pflicht, für das eigene Handeln und Unterlassen Verantwortung zu übernehmen."
Ob dieses in monogamen Beziehungen anders ist?
Ich habe den Eindruck und finde es persönlich schade, denn polyamore Verbindungen in einer verbindlicheren Form - und in tiefer Liebe und Achtung zueinander - wären etwas sehr Erstrebenswertes.
Egoismus kann ja auch sehr positiv definiert werden, nämlich als Selbstachtung, aber ich verstehe nicht, wieso diese derart oft im Gegensatz zu von Liebe getragener Verlässlichkeit zu stehen scheint. (?)
• Inneres Wachstum kommt schon schwieriger daher. Ist damit ein Ziel innerer Heilung und Entfaltung gemeint, das Arbeiten an einem Zustand eines behebbaren inneren Mangels und der benötigten Heilung wünscht?
Den Begriff "Wachstum" sehe ich kritisch.
Zu oft schon erlebte ich die Verwendung diesen Begriffes als "Überhöhung" der eigenen Entwicklung im Bezug auf das Gegenüber - regelrech arrogant.
"Ich bin reifer", "Ich habe etwas (z.B. Eifersucht) überwunden", "Ich ruhe in mir", "Ich...", "Ich", ... "ICH!"
Natürlich sind Menschen auf dem Weg - jeder auf seinem ganz Persönlichen - und natürlich sind wir im besten Fall alle Lernende.
Ich glaube sogar, dass die Menschen, die polyamore Verbindungen - im tatsächlichen Sinne der Definition - leben, mehr zum Hinterfragen "gezwungen" sind, um zu gestalten und gemeinsam miteinander einen Weg zu gehen.
Das ggf. auch deshalb, weil sie eben NICHT "der Norm" folgen.
Wobei... ich leider oft den Eindruck habe, dass "die Norm der Gesellschaft" lediglich von selbst auferlegter "Normierung" abgelöst wird.
Diesen Eindruck sehe ich immer dann bestätigt, wenn (auch hier in der Gruppe) sich ständig Wiederholendes auf alle Themen bezogen geantwortet wird.
Auf mich wirkt es oft so, als haben da einige Leute den gleichen "Workshop" besucht und streuen lediglich Thesen unter die Leute, ohne Verbindungen tatsächlich selbst langfristig, verbindlich und in Liebe (nicht nur zu sich selbst!) zu leben.
• Bewusstheit scheint ähnlich komplex. "Bewusstheit bedeutet, dass ich hier in diesem Augenblick mit allen Sinnen genau bei dem bin, was ich gerade tue." Soll dies gemeint sein? Oder wollte Rüther eher auf die "Unbewußtheit" hinaus, mit der "früher" Beziehungen eingegangen wurden, "weil man es so machte"?
Ich denke nicht, dass man unterstellen kann, dass frühere/andere Beziehungen "unbewusster" eingegangen wurden.
"Anders" - OK, aber ein "Unbewusster" zu unterstellen, halte ich für eine Wertung - und für eine Verallgemeinerung - die niemandem zusteht.
• Ehrlichkeit scheint uns mittlerweile stark im Wert der allseitigen Transparenz in Polybeziehungen und der Offenlegung aller vorhandenen Beziehungen aufgegangen zu sein...
Ist für mich die Basis JEDER Verbindung und... Bedingung, damit jeder in die Lage versetzt wird, sich überhaupt frei entscheiden zu KÖNNEN.
• Reflektierte Liebe - Ist das im Zusammenhang mit einem metaphysischen Phänomen wie "Liebe" möglich? Wieder Wikipedia: "Reflexion bedeutet in der Umgangssprache etwa prüfendes und vergleichendes Nachdenken, Überlegen (wenn es auf eine geistige Tätigkeit bezogen ist)." Geht es auch hier eigentlich um Selbsterkenntnis IN Beziehungen, um die "blinden Flecken" der Beteiligten auszuhebeln? Und sind wir bezüglich unserer "Liebe" in Polybeziehungen "reflektierter" (was irgendwie wie "nüchterner" klingt...) als unsere vermeintlich romantischen Ahnen?
Ja, ich denke, dass polyamore Beziehungen tatsächlich "reflektierter" sind.
Aber nur, bis jemand, der mal poly lebte, wieder in eine exklusive Beziehung geht, denn es geht - jedenfalls bei mir - nicht, diese Mechanismen wieder zurück zu nehmen.
Ich hinterfrage die Paarbeziehung jetzt genauso - bzw. das, was darin ist - wie ich es damals getan/gelernt habe, als ich polyamor gelebt habe.
Ich fühle ja immer noch so und sehe Beziehung offensichtlich nie mehr so, wie vor meinen 8 polyamor gelebten Jahren - egal, ob da jetzt Einer ist, oder, ob nochmal jemand Weiteres in mein Leben tritt.
VOR der Erfahrung mit polyamoren Gefühlen war ICH wohl weniger reflektiert, ABER HIER! könnte dann (?) ggf das Wort "unbewusst" hinpassen...
Unsere eigentliche Frage nach über 12 Jahren seit Erscheinen der Rüther-Arbeit:
Bildet Polyamorie gegenwärtig dieses "neue Partnerschaftsparadigma
" ab?
Ich frage mich, warum die Klärung dieser Frage wichtig ist. (?)
Warum verallgemeinern?
Warum diese - von mir wahrgenommene - "Suche" nach etwas, was für mehr als die Verbindung, die gerade gelebt wird, gültig sein soll?
Vielen Dank für das interessante Thema und liebe Grüße!