Hm. Ich denke nicht, daß wir "müssen", da bin ich ganz bei dir.
Für mich persönlich bin ich zu folgendem Punkt gelangt: Wenn wenig Informationsmaterial darüber vorhanden ist, wie vielfältig ein bestimmter Lebensstil sein kann und was er beinhaltet, dann braucht es ein paar Leute, die sich den Fragen und Anwürfen Uninformierter stellen. Denn verbreitete vorschnelle Vorurteile zeigen, daß für Minderheiten wie polys eben noch nicht gilt, daß das Private privat ist und gelassen betrachtet wird. Sondern daß moralische Keulen geschwungen werden, die den privaten Lebensstil verdammen - also von außen ungefragt angetragene Wertungen die private Beziehungsgestaltung einschränken.
Hm, wird mein Gedankengang verständlich? Vielleicht konkreter: Genauso, wie es eine Einschränkung bedeutet, wenn sich irgendwo zwei Schwule nicht auf offener Straße küssen "dürfen", weil "die sowas doch zuhause machen sollen", während Heteroküsse wohlwollend bis gleichgültig hingenommen werden - so bedeutet es auch eine Einschränkung für mich, wenn ich bei einem wichtigen beruflichen Anlaß, der groß gefeiert wird, nicht meine beiden Partner dezent küssen "darf", weil das von einigen als belästigender Affront und nicht als selbstverständlich gestattete Beziehungsgeste gesehen werden könnte. Während ich einen einzelnen Partner durchaus küssen, umarmen, etc "dürfte".
Wenn niemand darüber redet, wie der eigene polyamore Lebensstil devianterweise aussieht, dann gibt es keine Positivbeispiele für andere polys, sich zu outen, sondern ein umfassendes Schweigen. Ein umfassendes Schweigen perpetuiert Vorurteile, Diskriminierungen, und es wirkt ggf sogar so, als hätte man etwas Peinliches zu verbergen.
Ich habe für mich herausgefunden, daß ich keinen meiner Lebenspartner verstecken müssen möchte. Und daß ich nicht möchte, daß Polyamorie ein Thema ist, über "das man nicht redet". Wenn ich bspw darüber nachdenke, wie verunglimpft Homosexuelle noch vor wenigen Jahrzehnten (und bis heute!) dargestellt wurden - Stichwort Päderastendebatte etc -, und wie sie heute einen riesigen Schritt weiter sind, dann ziehe ich daraus für mich den Schluß, daß Sichtbarkeit in einer relativ freiheitlichen Gesellschaft für polys machbar sein sollte.
Konkret heißt das für uns: Wichtige Feierlichkeiten und Anlässe im Beruf und im Privatleben werden mit allen Beteiligten begangen, und wir stellen uns den daraus resultierenden Blicken und Fragen. Das ist unser aller Hobby nicht (bspw kann es unangenehm sein, wenn man dem Gegenüber förmlich ansieht, wie gerade über die Konstellation im Bett nachgedacht wird/Sexualisierungen stattfinden) - aber wir haben die Erfahrung gemacht, daß es wirkt und mittelfristig Vorurteile aufweichen kann, zumindest in unserem mittelkleinen Rahmen.