Polyamorie & Selbstfürsorge
Polyamorie bedeutet Offenheit, Respekt vor dem Anderen, Achtsamkeit im Umgang mit den Anderen und mir selber, Behutsamkeit im Entdecken neuer eigener Bedürfnisse. Die Neugier treibt mich in bisher unbekannte Gebiete meiner eigenen Seele und mein Unbewusstes nimmt das Neue dankbar auf. Ich tauche tief ein in Gefühle, die mir vorher fremd waren. Ich erweitere meine Empfindungsfähigkeit und lasse mich in neue Sphären entführen.
Und – ich gehe damit auch ein Risiko ein, weil ich damit auch gewohntes emotionales Terrain verlasse. Der Halt, den mir die monogamen Denkstrukturen und Verhaltensweisen, oder, anders ausgedrückt, mein den gesellschaftlichen Normen angepasstes Verhalten gab, schwindet mit jedem Schritt in diese neue, aufregende, faszinierende Welt. Die emotionale Sicherheit vorhandener Strukturen, ein fester Partner, Sex mit nur einer Person, ein eher ruhiger emotionaler Fluss an Emotionen zwischen mir und dieser Person, nimmt mit jedem Schritt in die Polyamorie ab. Und sie wird eben auch nicht gleich durch neue Strukturen aufgefangen, weil diese sich erst entwickeln müssen. Die, bei einer festen Partnerschaft, tiefe emotionale Verbundenheit, das aufeinander eingespielt sein, ist bei einer polyamoren Lebensweise nicht gleich mit neuen Partnern vorhanden. Hier begebe ich mich auf ein emotionales Terrain, das mir unbekannt ist, das mich fordert und wo ich vielleicht auch Entscheidungen treffe, die ich später korrigieren werde.
Der Weg in die Polyamorie ist eben auch ein learning by doing, ein Erfahrungen sammeln, ein langer Weg auch der Selbstentdeckung.
Deshalb ist es wichtig, bei mir zu bleiben, mich wahr zu nehmen, Pausen der Selbstreflexion einzulegen, in denen ich mich wahrnehme. Ist das Leben, was ich führe, meins, will ich so leben? Fühle ich mich in diesem Leben wohl, kommt das, was ich tue, aus mir selber heraus? Wie reagiert meine Seele auf die tiefen emotionalen Begegnungen mit neuen Menschen, nimmt sie diese an, ist sie offen dafür, fühlt es sich gut an? Oder zieht sie sich zurück, wird es zunehmend eine Qual für sie, signalisiert sie eine wachsende innere Ablehnung?
Selbstfürsorge schützt vor falschen Wegen
Und was ist, wenn ich merke, hier bin ich auf einem Weg, der sich für mich nicht mehr stimmig anfühlt? Oder, wenn ich merke, meine feste Beziehung kippelt, sie bekommt erste Risse, die tiefe emotionale Bindung löst sich fast unmerklich auf, hier passiert etwas, was mein Unbewusstes als Alarmzeichen meldet? Wenn ich merke, dieses schöne, faszinierende Gefühl, das mir der polyamore Weg bisher geschenkt hat, nimmt ab, es verlagert sich in ein Zurückziehen, ich empfinde Traurigkeit, ich habe Angst, meine lange, feste Beziehung zu verlieren oder ich spüre, der Sex ist nicht mehr so intensiv?
Sicherlich, der Weg aus den in mir verankerten monogamen Denkstrukturen und Verhaltensweisen ist ein langer, er erfordert Zeit und die Auseinandersetzung auch mit fest gefügten inneren Glaubenssätzen. Er beinhaltet Schmerz, Phasen der Selbsterkenntnis, eine allmähliche Veränderung eigener Ansichten und Haltungen. Er beinhaltet Traurigkeit und Phasen, in denen wir Halt suchen, bei meinem festen Partner wie auch bei meinen neuen Partnern. Er erfordert ein Hinterfragen eigener Haltungen, eine tiefe und intensive Auseinandersetzung mit mir und meiner eigenen Persönlichkeit. So weit okay.
Und was ist, wenn ich an einen Punkt komme, an dem mir langsam dämmert, diese polyamore Lebensweise ist als Ganzes oder in Teilen nichts für mich? Ich möchte nicht mehr monogam leben, okay, aber vielleicht eine einseitig offene Beziehung führen. Oder ich möchte …. ja, was sagt mir meine Seele?
Nichts im Leben ist in Stein gemeißelt
Ich habe nur ein Leben. Und ich darf so leben, wie ich möchte, ich bin der Gestalter meines Daseins hier auf Erden.
Wer hat das Recht, mir vorzuschreiben, was ich fühlen, empfinden, wahrnehmen und spüren darf? NIEMAND!
Wenn ich merke, hier fühlt sich für mich etwas nicht stimmig an, darf ich es ändern. Nur, ich habe nicht nur für mich Verantwortung, sondern auch für alle anderen Beteiligten.
Und hier wird es schwierig, emotional und in der praktischen Umsetzung. Hier existieren Blockaden, die manchmal ein offenes Sprechen über die eigenen Gefühle unmöglich erscheinen lassen. Hier besteht die ganz reale Angst, andere Personen zu verletzen. Hier ist eine Unsicherheit vorhanden, was ist richtig und was falsch. Und es existieren keine Vergleichsbeispiele, an denen ich mich orientieren kann, denn so eine Situation erlebe ich ja das erste Mal. Und nun?
Wozu habe ich mein Unbewusstes, mein Bauchgefühl? Es hat mir signalisiert, pass auf, hier stimmt etwas nicht mehr.
Und es wird mir auch den Weg zu einer Lösung weisen. Vielleicht ist mein neuer, polyamorer Partner der erste Ansprechpartner für mich. Vielleicht führe ich wieder Tagebuch und sortiere meine am Anfang diffusen Gefühle und Empfindungen. Vielleicht nehme ich mir eine Auszeit, bleibe nur für mich und erst mal für eine Zeit ohne alle meine Partner, um mir klar zu werden, was möchte ich. Alles ist erlaubt, was sich für mich stimmig anfühlt.
Hier lebe ich meine Selbstfürsorge, um mit mir wieder in ein emotionales Gleichgewicht zu kommen. Und das ist erlaubt, weil, wenn ich mit mir im Ungleichgewicht bin, wie soll ich dann eine erfüllte Beziehung leben, noch dazu mit mehreren Partnern?
Und das darf ich auch so kommunizieren, zu allen, die es betrifft. Denn ich nehme mir eine Auszeit, um für mich zu prüfen, ist diese polyamore Neugier noch vorhanden oder möchte ich für mich etwas ändern?
Und nach dieser Phase der Entscheidungsfindung, der inneren Einkehr darf ich für mich auch Veränderungen vornehmen. In einer achtsamen, respektvollen und behutsamen Kommunikation, im Gespräch mit allen Beteiligten gilt es nun auszuloten, was ist machbar, wie gestalten wir alle miteinander unsere Polyamorie so, dass ich mich wieder wohlfühle. Und hier dürfen Unstimmigkeiten auftreten, denn es geht um Gefühle, um tiefe Emotionen, die vielleicht auch aufgelöst werden. Hier darf Schmerz sein, auch Trauer, vielleicht auch, sich unverstanden und verletzt fühlen, alles ist erlaubt an Gefühlen.
Und wenn nicht alle Beteiligten diese für mich, für mein Wohlbefinden notwendigen Veränderungen mitgehen können, ja, dann hat auch das seine Berechtigung. Denn wir sind alle freiwillig polyamore Beziehungen eingegangen, und wir haben alle auch das Recht, sie wieder zu verlassen oder in ihren Strukturen und Inhalten anzupassen, bis sie sich wieder stimmig anfühlen.
Und auch das macht den Reiz und die Vielfalt polyamoren Lebens für mich aus.